Warum werden wir Gott nicht los?

Thomas Thiel, Redakteur in der Feuilletonredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat kürzlich in einem couragierten Artikel christliche und islamische Theologen eingeladen, die Herausforderungen des Nihilismus anzunehmen („Man scheue die nihilistischen Herausforderungen nicht“, F.A.Z. vom 14.12.2106, Nr. 292, S. 9). Der interreligiöse Dialog sei in eine Schieflage geraten. Das Christentum, so Thiels Hauptthese, habe sich von der Wahrheit verabschiedet, die der Islam mit Leidenschaft vertrete. Eine wissenschaftlich „ausgekühlte“ Theologie, die „Kultur“ meine, wenn sie „Religion“ sage, sei gegenüber einem „heißen“ Islam nicht mehr dialogfähig. Ron Kubsch, stellt einige Ansichten Thiels vor und fordert Christen dazu heraus, sich mit den aufgeworfenen Fragen auseinanderzusetzen. Ron Kubsch ist Rektoratsleiter des Martin-Bucer-Seminars in Bonn, Dozent am Bucer-Seminar für Apologetik und Neuere Theologiegeschichte, Blogger http://theoblog.de/, stellv. Vorsitzender von Evangelium21, Mitglied des Netzwerks Bibel und Bekenntnis.


Thomas Thiel stellt in seinem beherzten Essay „Man scheue die nihilistischen Herausforderungen nicht“ fest, dass wir Gott nicht loswerden. Die alte These, dass Religion durch den Fortschritt von Kapitalismus und Wissenschaft langsam verschwinde, sei durch das weltweite Aufblühen der Religionen widerlegt worden. Ein Naturalismus, der sich zwar den Naturwissenschaften verschrieben, sich aber ebenfalls mit der Sinnlosigkeit der Welt arrangiert habe „und gleichzeitig positivistische Kathedralen baue“, sei keine Alternative. Nicht nur für die meisten Menschen. „Wer wirklich gottlos leben will“ – so Thiel – „kann, wenn überhaupt, sich nur mit großem intellektuellem Aufwand behaupten. Solange wir die Grammatik gebrauchen, schreibt Nietzsche, werden wir Gott nicht los.“

Allerdings hätten sich die beiden großen Religionen, Christentum und Islam, unterschiedlich entwickelt. Im Islam laufe die wissenschaftliche Erkenntnis und deren technische Anwendung „unvermittelt neben dem dogmatischen Glaubensweltbild her“. In ihm vermischten sich Kultur, Recht, Politik, Ritus und Theologie auf undurchsichtige Weise. Das Weltbild der modernen Wissenschaft habe den Islam nur oberflächlich erfasst. Eine genuin islamische Wissenschaft gebe es bisher nicht, auch wenn junge islamische Theologen sie forderten. Die islamische Theologie müsse entscheiden, ob sie sich innerlich aufklären oder sich politisch profilieren wolle. Noch sei sie eine „heiße“ Religion.

Anders das europäische Christentum. Es habe – hier übernimmt Thiel Thesen des atheistischen Religionssoziologen Günter Kehrer – auf den Rechtfertigungsdruck, der durch den wissenschaftlichen Fortschritt im „aufgeklärten“ Europa entstanden sei, mit einer „Verinnerlichung“ reagiert. Das europäische Christentum habe sich „entkonkretisiert“. Wer sich als Christ in Europa auf die verbindliche Wahrheit religiöser Gebote beruft, wird … an die Ränder des religiösen Feldes, in Freikirchen und Sekten, abgedrängt. Welcher christliche Theologe glaubt wirklich – und es kann ja sein –, dass Jesus am dritten Tage auferstanden ist?“ Durch diese Wende zum Subjekt habe neuzeitliche Theologie allerdings ihren transzendentalen Bezugspunkt verloren. Glaube sei heute eine „private Bastelreligion“. Sogar die öffentliche, also die an den Hochschulen verortete Theologie, habe den Bezug zum Weltbild der modernen Wissenschaft verloren. „Sie entwirft sich als Disziplin mit eigener, inkommensurabler Methode und zieht sich auf die innere Stimmigkeit ihrer Aussagen zurück, mit dem Argument, dass der Glaube eine schlechthin andere Wahrheitsform als das Wissen sei.“ Die Theologie lasse Wahrheitsgebote liturgisch eingekapselt und begreife sie nicht mehr als Aussagen über die Welt. Ein in dieser Weise auf Wahrheit verzichtender christlicher Glaube könne halbwegs unbeschadet neben der Wissenschaft koexistieren.

Die wissenschaftliche Auskühlung habe der christlichen Theologie allerdings auch das religiöse Temperament genommen. Was soll sie denn zu der Welt „da draußen“ noch sagen? Raffiniert fragt Thiel: „Müsste eine wissenschaftliche Theologie einen buchstabengläubigen, nicht an der Wissenschaft geschulten Islam nicht scharf kritisieren? In dieser Richtung ist wenig zu hören. Der interreligiöse Dialog ist ein Händchenhalten auf oberflächlicher Ebene. Auf vorderster Bühne stehen die Gratismoral des EKD-Vorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm und die religiöse Kulinarik eines Navid Kermani, der die von der Theologie liegengelassene sinnliche Glaubensernte einfährt.“

Wie will Thiel das Dilemma lösen? Er erwartet von den christlichen Theologen, dass sie „eine klare Position zum Wahrheitsgehalt der biblischen Überlieferung beziehen und in der Reflexion auf das Weltbild der modernen Wissenschaft die methodisch ausgegrenzten sinnlichen und existentiellen Gehalte des Glaubens wiedergewinnen.“ Nur so könne sich ein „aufgeklärtes Christentum selbstbewusst gegen dogmatische Zumutungen des Islams verteidigen, die zu weitreichenden alltagspraktischen Forderungen führen.“ Der Islam stehe hingegen vor der Aufgabe, die naturwissenschaftliche Aufklärung anzunehmen. Es sei nicht zumutbar, „religiöse Gebote zum Verhaltensdiktat zu machen, die sich einem verkürzten Weltbild verdanken“. Der Islam brauche eine Selbstaufklärung. Kurz: Allein durch die Reflexion auf das wissenschaftliche Weltbild könne die Spaltung überwunden werden. Legitim floriere Religion nur auf Kosten der Fragen, die Wissenschaft nicht beantworten könne.


Thomas Thiels Essay bleibt für mich in mancherlei Hinsicht unbefriedigend. Kann die von ihm geforderte naturwissenschaftliche Aufklärung, die dem Islam zur „Abkühlung“ und dem Christentum zur „Erwärmung“ verhelfen soll, Theologie und Dialog tatsächlich retten? Ist Religion nicht mehr als der Versuch, „seinem Leben Verbindlichkeit zu geben“ und rituellen „Anschluss an eine Sinnordnung“ zu finden? Gibt es das eine (naturwissenschaftliche?) Weltbild moderner Wissenschaft, das der Theologie als Besinnungspartner dienen soll, überhaupt? Inwiefern helfen uns naturwissenschaftliche Einsichten bei der Klärung historischer Fragen? Und, um mit dem Kirchenvater Augustinus zu fragen: Geht der Glaube nicht der wissenschaftlichen Erkenntnis voraus?

Nichtsdestoweniger lenkt Thiel unser Augenmerk auf einen wirklich wunden Punkt der christlichen Verkündigung. Die Theologie hat sich gegenüber Kritik weitgehend immunisiert, indem sie sich mit Bultmann und anderen einen existentialistischen Wahrheitsbegriff angeeignet hat. Theologie bezieht sich demnach nicht mehr auf die objektive Wirklichkeit (eben die Welt, in der wir leben), sondern ist „eine Sache von schlechthin individueller Erfahrung“ geworden (E. Herms). Glaube kann und muss sich nur insofern bewähren, als es eine Überstimmung zwischen dem Urteil des Gewissens und dem Zuspruch von Gnade und Vergebung gibt.

Diese Kultur der subjektiven Wahrheit – die viele Kirchengemeinden (und manche Ausbildungsstätten?) mit Wertschätzung zelebrieren – wird dem wachsenden Rechtfertigungsdruck nicht gerecht. Weder dem Druck, der von den säkularisierten westlichen Gesellschaften ausgeht, noch der Wucht eines Islam, der mit missionarischem Eifer in Europa einzieht.

Die in die Schöpfung eingewobene Kenntnis von Gott ist mehr als ein vages Gefühl (vgl. Röm 1,20). Sie ist so überwältigend klar, dass die Menschen im letzten Gericht keine Entschuldigung dafür haben werden, ihr Leben nicht in Dankbarkeit und Verehrung für Gott gelebt zu haben (vgl. Röm 1,18–23). Auch die Botschaft von der Rettung gottloser Sünder durch Jesus Christus ist uns klar und verbindlich gegeben. Das Evangelium ist keine Sache reiner Innerlichkeit. Sie korrespondiert mit der erfahrbaren Welt, in die Gott uns hineingestellt hat und sie ist in der Heiligen Schrift verlässlich bezeugt. „Denn wir sind nicht ausgeklügelten Mythen gefolgt“, heißt es in 2. Petrus 1,6, „als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen.„Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich“, schreibt der Apostel Paulus (1. Korinther 15,13, vgl. a. 1. Johannes 1,1–3).

Die wirkliche Welt (Christen sprechen von Gottes Schöpfung) und der Geltungsanspruch der Offenbarung erfahren in den öffentlichen Diskursen über den Wahrheitsanspruch der Religionen wieder mehr Aufmerksamkeit. Christen, die im Hinblick auf die Kultur des Unglaubens sprach- und argumentationsfähig bleiben wollen, sind gut beraten, wenn sie sich auf diesen Wandel einstellen. Das Reale, das Vernünftige, kehren langsam zurück und verdrängen das Imaginäre und Esoterische. Die Menschen wollen wissen, ob es wahr ist, was wir glauben. Es wird nicht mehr ausreichen, den christlichen Glauben wie gute Musik zu verteidigen. Tragfähige Argumente, die sich vor dem Forum einer kritischen Vernunft bewähren, sind vielleicht wichtiger denn je. Und es wird Zeit, dass die Fundamentaltheologie (oder die christliche Apologetik), die in Europa so nachlässig oder sogar verachtend behandelt worden ist, wiederbelebt und spürbar gefördert wird. Wir sollten die Aufforderung Thiels, sowohl argumentativ als auch existentiell die Herausforderungen und Konfrontationen anzunehmen, nicht scheuen. Es gibt gute Gründe dafür, warum wir Gott nicht loswerden.

Ron Kubsch