Sagt die Bibel etwas zu heutiger Homosexualität?

– von Pfarrer Dr. Gerrit Hohage –

1. Bibel und Homosexualität: Das „Leerstellen-Argument“

Handeln die biblischen Texte, in denen von Homosexualität die Rede ist, gar nicht von gleichgeschlechtlichen Beziehungen in heutigem Sinne? Diese Ansicht wird in der kirchlichen Debatte über „Sexuelle Vielfalt“ immer häufiger vertreten. In der Absicht, homosexuelle Beziehungen und Partnerschaften auch kirchlich zu legitimieren und der Ehe gleichzustellen, versucht man auf diese Weise, den Widerspruch zu verschiedenen biblischen Texten aufzulösen. Es geht dabei vor allem um folgende Stellen in den Paulusbriefen: Römer 1,26-27, 1. Korinther 6,9-10 (sie nimmt auf 3 Mose 18,22 Bezug) und 1.Timotheus 1,10. In ihnen allen werden homosexuelle Handlungen abgelehnt.

Diesem Problem versuchen vor allem evangelische Theologinnen und Theologen mit dem „Leerstellen-Argument“ zu begegnen. Dieses sagt: In den genannten Bibelstellen geht es in Wirklichkeit um etwas ganz anderes als (heutige) Homosexualität, so dass die Bibel, obwohl sie etwas zu homosexuellen Handlungen sagt, letztlich dazu doch nichts sagt, und wenn sie nichts dazu sagt, dann ist es eigentlich egal.

Bei Margot Käßmann etwa klingt das „Leerstellen-Argument“ so (1 – Fußnoten siehe unten): Die Bibel meint „nicht Paare, die einander ein Jawort geben, zueinander stehen wollen in guten und in schweren Zeiten ein Leben lang. Das war zu biblischen Zeiten doch gar nicht vorstellbar! Es geht vielmehr um eine Mahnung zu verantwortlicher Sexualität, die nicht mit Erniedrigung, Beliebigkeit oder gar Gewalt einhergeht, sondern mit Liebe und gegenseitigem Respekt.“ Ähnlich argumentiert der Badische Landesbischof Jochen Cornelius-Bundschuh (2): Die biblischen Texte handelten nicht von Homosexualität in heutigem Sinne, da es diese im Sinne eines Miteinanders von zwei gleichberechtigten Personen noch nicht gegeben habe. Homosexualität habe sich in der Antike ausschließlich im Rahmen eines Sozialgefälles zwischen einem Mann als freiem Rechtssubjekt und abhängigen Personen (Kinder, Sklaven) abgespielt, und nur (!) gegen diese Machtkomponente wendeten sich die Bibelstellen. Diese Lesart ist nicht nur in den Positionierungen von Kirchenleitungen, sondern auch im Bereich universitärer Theologie anzutreffen, etwa im neuen EKK-Kommentar von Michel Wolter (siehe Anhang 2) oder beim Ludwigsburger Professor Dr. Siegfried Zimmer in einem Podcast des Channels „Worthaus“. (3)

In Sozialen Medien gab es dazu eine auf hohem Niveau geführte Kontroverse. Mehrere Theologen wie z.B. der Augsburger Katholik Johannes Hartl haben Zimmer widersprochen (4). Sie ziehen das „Leerstellen-Argument“ grundsätzlich in Zweifel. Die Frage ist also: „Zieht“ dieses Argument? Wird die Bibel in historischem Sinne sachgemäß verstanden, wenn man sagt, dass sie sich nicht auf gleichberechtigte gelebte Homosexualität in heutigem Sinne beziehen kann? Dies ist völlig unabhängig davon, dass man seinem homosexuellen Nächsten mit Annahme und Wertschätzung begegnen sollte, oder dass man ihre Entscheidung zu einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft respektieren sollte. Es ist auch noch unabhängig davon, wie wir (evangelische) Christen heute Homosexualität bewerten. Ich möchte hier – bei allem Verständnis gegenüber denen, das „LeerstellenArgument“ in letzter Zeit stark gemacht haben – folgender Frage nachgehen:

Ist die Aussage, dass die Bibel nichts zu heutiger (partnerschaftlicher) Homosexualität sagt, sachlich und historisch richtig? 

2. Vier Argumente gegen das „Leerstellen-Argument“

2.1. Was Jesus zur Ehe sagt

Als Christinnen und Christen gehen wir von den Worten Jesu Christi aus (5). In Markus 10,2-12 sowie
Matthäus 19,3-9 äußert sich Jesus ausdrücklich zur Ehe (6). Er nimmt dabei beide Schöpfungsberichte am Anfang der Bibel auf (1. Mose 2,4b-25, hier besonders Vers 24 und 1. Mose 1,26-28, hier besonders Vers 27, siehe Anhang 1), sowie das 6. Gebot (2. Mose 20,14). Wenn man diese drei von Jesus zusammengestellten Texte sowie seine Auslegung betrachtet, erschließen sich umgehend folgende sechs Kennzeichen einer Ehe im christlichen Sinn:

1) Es handelt sich um eine exklusive Zweierbeziehung
2) Die Zweierbeziehung ist gegengeschlechtlich, auf Fortpflanzung angelegt
3) sie hat einen offiziellen Charakter (erkennbar am sichtbaren „Verlassen“ des Elternhauses), soll also keine geheime Verbindung sein
4) sie ist der legitime Ort sexueller Begegnung
5) sie wird auf Lebenszeit geschlossen und soll nicht vom Menschen geschieden werden
6) sie ist geschützt und soll nicht gebrochen werden (Bezugnahme auf das 6. Gebot). Ehebruch des Partners ist denn auch der einzige Grund, der die Fortsetzung der Partnerschaft in Frage stellt.

Diese sechs Kennzeichen sind im Gesamten für die Ehe in christlichem Sinn konstitutiv, d.h. man kann keines einfach weglassen – auch nicht das zweite. Insofern macht Jesus auch eine indirekte Aussage über andere Lebensformen sexueller Art. Sie fallen aus diesem Rahmen und sind nicht dasselbe. Seit den Tagen der Urchristenheit bis heute bilden diese sechs Kennzeichen den roten Faden der christlichen Ehe, und zwar in der gesamten weltweiten Kirche aller Konfessionen durch alle Jahrhunderte hindurch – erst die westlich geprägte evangelische Kirche des 21. Jahrhunderts will einen anderen Weg gehen.

Nach den Worten Jesu hat sich Gott der Schöpfer das von Anfang an so gedacht, auch wenn es im Verlauf der Geschichte nicht immer so war. Wenn das Leben der Menschen in diesem wie auch in allen anderen Bereichen hinter den Worten Gottes zurückbleibt (und das geschieht), dann hebt das die Worte selbst nicht auf. Man kann scheitern und der Erneuerung und Vergebung bedürfen, und die schenkt Jesus uns (vgl. Joh 8,1-11), aber dadurch verändert sich nicht, was Jesus gesagt hat. Man kann durch Schicksalsschläge wie den Tod des Partners zur Bildung einer neuen (1. Mose 25,1; 1. Kor 7,39) oder in sehr seltenen Fällen zu einer analogen, abgeleiteten Lebensform kommen (7). Auch die wenigen biblischen Ausnahmen aus der Not heraus ändern nicht die Regel. Die Stellen in den Paulusbriefen müssen vor dem Hintergrund dieser Regel, die Jesus gelehrt hat, gelesen werden.

2.2. In der Antike gibt es gelebte Homosexualität auch unter gleichberechtigten Menschen!

Der Bonner freikirchliche Theologe Mario Wahnschaffe hat Belege aus neuerer profangeschichtlicher Literatur gesammelt, die beweisen, dass es im antiken Griechenland Homosexualität durchaus auch unter gleichberechtigten (nämlich „freien“) Männern gab (Anhang 1). Nur war sie im Gegensatz zur Päderastie („Knabenliebe“) gesellschaftlich verpönt, weil es sich nicht schickte, dass ein freier Mann die sexuell passive Rolle übernahm. Es gibt aber bedeutende, auch namentlich bekannte Ausnahmen bis hin zur lebenslangen gleichgeschlechtlichen Partnerschaft z.B. in der „Heiligen Schar“ von Theben, einer Armee von ausschließlich homosexuellen Männern und deren Partnern. Die These, dass der mit der griechischen Welt gut bekannte Paulus Homosexualität unter Gleichberechtigten nicht gekannt haben könne (Käßmann u.a.), lässt sich historisch nicht aufrechterhalten!

An dieser Stelle stoßen zwei gegensätzliche Argumentationslinien zusammen, die beide das Interesse verfolgen, Homosexualität zu legitimieren. Die „Gay“ und „Queer Studies“ bemühen sich um den Nachweis, dass es Homosexualität unter Gleichberechtigten bereits früh in der Kulturgeschichte gab. Sie bringen dafür immer mehr Beispiele aus der griechisch-römischen Welt zum Vorschein. Die anderen (hauptsächlich Theologen) bemühen sich um den Nachweis, dass es diese gerade noch nicht gab, um sie so als ein Phänomen herausstellen zu können, das den biblischen Texten noch unbekannt ist. Dieser Widerspruch zwischen den Legitimationsbegründungen muss wissenschaftlich irgendwann dazu führen, dass eine der beiden Linien als historisch falsch erkannt wird. Die theologische Linie hat dabei die deutlich schlechteren Karten. Die Theologin Luise Schottroff hat sie in ihrem Kommentar zum ersten Korintherbrief von 2013 bereits aufgegeben und schreibt: Es „ist ernstzunehmen, dass Paulus hier gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Männern generell und wie die Tora (Lev 18,22; 20,13) und ihre Auslegung negativ bewertet“ (8). Ein Unterschied zwischen dem, was gesagt wird und dem, worum es „in Wirklichkeit“ geht, ist also nicht anzunehmen. Oder anders ausgedrückt: Die Worte des Paulus handeln genau von dem, was sie sagen!

2.3. Es gibt keine positive Bewertung homosexueller Handlungen in der Bibel

Den (wenigen!) negativen Bewertungen steht in der gesamten Bibel keine einzige positive Bewertung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen gegenüber (9). Das zeigte bereits die EKD-Studie „Mit Spannungen leben“ von 1996 und das wurde bisher nicht widerlegt. Darin unterscheidet sich diese Fragestellung signifikant von anderen ähnlich komplexen ethischen Fragen wie z.B. der Gleichstellung von Frauen und Männern (vgl. Gal 3,18), in denen sich verschiedene Bewertungen innerhalb der Bibel gegenüberstehen.

2.4. Paulus verdeutlicht eine der Konsequenzen aus den Worten Jesu

Jesus sagt, wie die Ehe nach Gottes Willen ist; Paulus führt diese Linie weiter und verweist an mehreren Stellen auch auf (hauptsächlich heterosexuelle) Lebensweisen, die jenseits des Willens Gottes liegen. Er verdeutlicht dabei etwas, was aus Jesu Worten notwendigerweise folgt. In diesem Zusammenhang nennt er auch (!) homosexuelle Handlungen (übrigens nicht Homosexualität an sich – das ist wichtig: Er spricht von sexuellen Handlungen, nicht aber von Gefühlen oder Empfindungen, also in heutiger Begrifflichkeit von „gleichgeschlechtlicher Orientierung“).

Fazit: Das „Leerstellen-Argument“ ist, sobald es um „gelebte Homosexualität“ geht, sachlich und historisch unhaltbar! Die Bibel sagt etwas zu ihr auch im heutigen Sinne – auch wenn das vielen Menschen heute in- und außerhalb der Kirche Schwierigkeiten macht. Diese Schwierigkeiten muss (und kann) man anders angehen als dass man sich die Bibel zurechtbiegt (10).

 

(c) Pfarrer Dr. Gerrit Hohage * Ahornstr. 14 * 69502 Hemsbach * Tel. 06201 / 72242

Veröffentlicht unter: http://www.netzwerk-baden.de/fileadmin/Webdocuments/Ehe_und_Familie__Menschenbild__Gender-Diskussion/_04__Sagt_die_Bibel_etwas_zu_heutiger_Homosexualitaet_-_2015_Juni_-_Gerrit_Hohage.pdf

 

Anhang 1: Mario Wahnschaffes Belegsammlung homosexueller Beziehungen unter Gleichberechtigten in der Antike

Ich gebe die betreffenden Passagen im Blog von Mario Wahnschaffe unter leichter Kürzung und Überarbeitung (gekennzeichnet:°) im Folgenden wieder (11):

In [46:14] behauptet Prof. Zimmer, dass die Antike gleichberechtigte, liebevolle, von beiden Seiten bejahte homosexuelle Beziehungen nicht kannte. Somit lassen sich die Verse der Bibel, die gegen Homosexualität sprechen, nur auf gewalttätige und päderastische ° sexuelle Handlungen (Sex mit minderjährigen Knaben) beziehen und nicht auf heutige freiwillige homosexuelle Beziehungen.

Wo sind die Quellen für diese Postulate?

Dagegen lässt sich folgendes lesen über gleichaltrige, homosexuelle Beziehungen in der Antike: „Hingegen waren gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen erwachsenen und mit dem [athenischen] Bürgerrecht ausgestatteten Männern während der klassischen Epoche Griechenlands gesellschaftlich verpönt und galten für die betreffenden Männer als ‚unehrenhaft‘“; sie scheinen jedoch nicht strafrechtlich verfolgt worden zu sein.“ (Quelle: Andreas Mohr: Eheleute, Männerbünde, Kulttransvestiten, S. 89.

Sich sexuell passiv verhaltende, freie, erwachsene und mit dem athenischen Bürgerrecht versehene Männer wurden – analog zur Situation in anderen griechischen Städten – als „kinaidoi“ bezeichnet, was in ethisch negativ wertender Form die sexuelle Passivität Freigeborener bezeichnet, und zwar im Sinne der Adjektive „weibisch“, „schandhaft“ und/oder „schamlos“. Elke Hartmann führt hierzu aus: „Wer Männer begehrte, die dem Alter eines eromenos entwachsen waren, wurde als weibisch verspottet.“ (Quellen: Thomas K. Hubbard: Homosexuality in Greece and Rome. A Sourcebook on basic Documents in Translation. Los Angeles 2003, S. 6–7. – John J. Winkler: The Constraints of Desire: The Anthropology of Sex and Gender in Ancient Greece. New York 1990. – Elke Hartmann: Art. Homosexualität, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 5. Stuttgart/Weimar 1998, Sp. 704.)

° In Theben wurde um 378 v. Chr. die Heilige Schar von Gorgidas eingeführt und in der Folgezeit von Pelopidas zu einer Spezialeinheit geformt. Es handelte sich um eine militärische Elitetruppe, die ausschließlich aus 150 Liebhabern und ihren 150 Geliebten bestand. Allgemein waren sexuelle Kontakte in den Armeen der Antike nicht unüblich, so dass einige Soldaten sogar ihre Geliebten mit zum Kriegsdienst nahmen. (Quellen: Crompton, Louis: Homosexuality and Civilization. London: Havard UP 2003, S. 4. – Dover, Kenneth J.: Greek Homosexuality. London: Duckworth 1978, S.69. – Kenneth Dover: Homosexualität in der griechischen Antike, S. 192.)°

In der Ilias spielen Achilles und Patroklos eine besondere Rolle. Obwohl in dem Werk nicht explizit ausgesprochen wird, dass die Beziehung beider sexueller Natur war, bestand zwischen beiden doch eine tiefe emotionale Beziehung. Platon war der erste, der sie als Liebespaar ansprach. In der homerischen Dichtung werden sie als gleichberechtigt dargestellt.

Viele gleichgeschlechtliche Paare sind aus der Zeit des antiken Griechenlands überliefert. Unter ihnen befinden sich Euripides und Agathon sowie Alexander der Große und Hephaistion. Agathon wird wegen seiner Homosexualität verspottet von den Frauen. (Quelle: Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland, Winfried Schmitz, S.342)

Hephaistion war ein makedonischer Adeliger, der engste Freund, General, Leibwächter und möglicherweise auch der Geliebte Alexanders des Großen. Aufgrund seiner besonderen Loyalität zu Alexander und dessen politischem Programm der Aussöhnung und Verschmelzung der verschiedenen Völker seines Reiches konnte er zum zweiten Mann des Reiches aufsteigen.

Juvenal verurteilt zahlreiche Formen männlicher Homosexualität und klagt vor allem römische Männer hoher Geburt an, die sich nach außen hin moralisch geben, im heimlichen aber weibliches Verhalten zu Tage legen. Er findet Männer, die weibliches Verhalten offen zur Schau tragen, zwar bemitleidenswert, aber ehrlicher und preist zum Schluss als wirklich wahre Liebe die eines Mannes zu einem Knaben. Öffentliche Reden verurteilen in der Regel alle Formen von Homosexualität unter römischen Bürgern bzw. freigeborenen Männern. Als Julius Caesar in Bithynien war, wurde ihm ein Verhältnis zum dortigen König Nikomedes nachgesagt, was ihm einen schlechten Ruf einbrachte, aber offensichtlich keinerlei rechtliche Folgen hatte. Kaiser Hadrian hatte eine Beziehung zu dem jüngeren Antinoos, ohne dass dies weiter kritisiert wurde. (Quellen: Juvenal: Satire 2; Sueton: Gaius Iulius Caesar, 2) […]

3. Keine lesbische Homosexualität in der Antike?

In [25:06] führt Prof. Zimmer aus, dass es im alten Orient keine lesbische Sexualität gegeben hätte und dass
man so etwas nicht gekannt hätte.

Was sagt die antike Literatur dazu? Es gibt nur wenige Quellen zur weiblichen Homosexualität. Für Sparta sind immerhin erotische Beziehungen älterer zu jüngeren Frauen belegt, die im Rahmen des Erziehungssystems eine der Agoge der männlichen Jugendlichen vergleichbare Rolle mit Blick auf weibliche Heranwachsende gespielt haben könnten, während das Thema in Athen anscheinend eher ignoriert wurde bzw. möglicherweise sogar tabuisiert war. Allerdings gibt es in der Dichtung von Sappho (630 v.Chr.), der Lyrikerin von der Insel Lesbos, zahlreiche Belege für gleichgeschlechtliche Liebe unter Frauen, wobei es auch hier um die Liebe einer etwas älteren Frau zu jüngeren ging. Diese Beziehungen wurden offensichtlich akzeptiert. Sie wurde anscheinend erst in klassischer Zeit unter athenischem Einfluss in einem eher negativen Licht dargestellt. (Quellen: Ernst Baltrusch: Sparta, S. 68: „Auch für die jungen Mädchen sind besonders enge Beziehungen zu ihren ‚Lehrerinnen‘ überliefert.“ – Einen Überblick über die Lieder der Sappho bietet Max Treu: Sappho: Lieder. Griechisch und deutsch. 6. Auflage. München 1979.)

Ihre Lieder, in denen sie die Schönheit ihrer Freundinnen, Schülerinnen und vor allem auch ihrer Tochter besingt, sind im Anschluss an ein Scholion zu Martials Epigramm 7,67 seit Domizio Calderino (1474) auf die Liebe Sapphos zu Frauen bezogen worden; von dieser Auffassung schreibt sich die Bezeichnung „lesbische“ oder „sapphische“ Liebe für weibliche Homosexualität her.

Dieser Belegsammlung von Mario Wahnschaffe, die sich umfassend erweitern lässt, möchte ich noch Platons Dialog „Symposion“ Abschnitt 15-16 zur Seite stellen. Er gibt darin die Legende von den „Kugelmenschen“ und einem ursprünglichen „Dritten Geschlecht“ wieder, dem Mannweib: 

„Die Weiber dann, die aus dem alten Geschlechte des ganzen Weibes geschnitten sind, haben wenig Sinn für den Mann und fühlen sich mehr zum eigenen Geschlechte hingezogen: die lesbischen Frauen stammen aus diesem Geschlecht. Und endlich die Männer, die aus dem alten männlichen Geschlechte geschnitten sind, gehen dem Manne nach. Schon als Knaben lieben sie die Männer und sind froh, wenn sie Männer umarmen und mit Männern liegen. Gerade die mutigsten finden wir unter ihnen, da sie ja doch schon von Natur aus sozusagen die männlichsten sind. Wer sie schamlos nennt, der lügt. Denn nicht aus Schamlosigkeit handeln sie so; nein, ihr Mut, ihre Mannhaftigkeit, ihre Männlichkeit liebt eben ihresgleichen. Und das beweist es: nur sie dienen, reif und zu Männern geworden, dem Staate. Als Männer lieben sie wieder Knaben und Jünglinge und kümmern sich wenig darum, ein Weib zu nehmen und Kinder mit ihm zu zeugen; es genügt ihnen durchaus, unverheiratet nur miteinander zu leben. So also sind die Freunde und Geliebten entstanden, auch sie lieben eben nur ihr eigenes altes Geschlecht. Wenn nun einer von diesen oder jenen anderen seiner eigenen Hälfte zum erstenmal begegnet, da werden er und der andere wundersam von Freundschaft, Heimlichkeit und Liebe bewegt, und beide wollen nicht mehr voneinander lassen. Aber sie, die von nun an ihr ganzes Leben beieinander weilen [Hervorhebung von mir – d.i. lebenslange Gemeinschaft; gegen M. Käßmann, siehe oben S. 1], sie wissen dennoch niemals und niemand zu sagen, was sie wollten, daß mit ihnen geschähe.“

Einen Forschungsüberblick, der die bisherigen Ergebnisse bestätigt, bieten des weiteren folgende Wikipedia Artikel: https://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualität im antiken Griechenland ; https://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualität im Römischen Reich

Anhang 2: Anmerkungen zum Römerbrief-Kommentar von Michael Wolter – für Theologinnen und Theologen

Michael Wolter kommt im 2014 erschienenen ersten Teilbands des EKK-Kommentars zum Römerbrief zum Ergebnis, Röm 1,26-27 sei „Bestandteil einer affektiven rhetorischen Strategie, die ledig lich darauf abzielt, Verhaltensweisen zu diskreditieren, die der kulturellen Konvention widersprechen“. Sexuelle Identität bleibe unberücksichtigt. Diese Bibelstelle ließe sich nicht für den christlichen Umgang mit Homosexualität „instrumentalisieren“ (S. 153f.).

Dem kann begründet widersprochen werden:

(1) Dieses Ergebnis kommt via Zirkelschluss dadurch zustande, dass Wolter S. 149 expressis verbis die „Gender“-Perspektive in die Auslegung einträgt, die sich dann im Ertrag – v.a. S. 153f. in zahlreichen Setzungen, was „stets“ oder „immer“ irgendwie „ist“ – lediglich spiegelt. Hier werden unbelegte ideologische Versatzstücke aus den „Gender Studies“ – ausdrücklich mit dem Anspruch von „Wahrheit“! – zum Interpretament für Paulus (12).

(2) Warum die durch den Begriff „ὁµοίος“ in V.27a erstellte Gleichung nur in eine Richtung und nicht bidirektional als Analogon interpretabel sein soll (S. 151), ist nicht plausibel.13 Die Beobachtung eines rhetorischen Achtergewichts rechtfertigt nicht die Annahme eines sachlichen Gefälles, das eine wechselseitige Explikation ausschließen würde.

(3) Fußn. 66 (S. 149) konstatiert Wolter, in Paulus’ Anführung von „ϑήλειαι“ und „ἄρσενοι“ sei „eine Anspielung auf Gen 1,27 nicht zu erkennen“. Das verwundert sehr, da diese Begriffe üblich sind, um das Geschlecht nach seiner sexuellen Seite zu bezeichnen und sie genau in dieser Weise Mt 19,4 in klassischer Septuaginta-Übersetzung von Gen 1,27 aufgenommen sind14 (den Grund für die weibliche Voranstellung hat er m.E. zutreffend herausgearbeitet). „ἄρσεν καὶ ϑῆλυ“ als Übersetzung von בה ֵקְוּנ ׇ כרׇזׇ kommt auch an anderen Stellen in vergleichbarer Weise vor, so in der Noahgeschichte Gen 7 etc. Es gibt keine näherliegende Begrifflichkeit, dasselbe auszudrücken, zumal im Kontext Gen 1,28 die Fruchtbarkeit und das Sich-Mehren durch sexuellen Kontakt ausdrücklich zum Auftrag gemacht wird. Vor allem aber entgeht Wolter, dass Lev 18,22 LXX ausdrücklich heißt: µετὰ ἄρσενος, mit derselben substantivierten Form, lediglich im Kollektivsingular und ohne bestimmten Artikel (beides kommt Röm 1 durch den Kontext zustande). Der pagane φύσιϛ-Begriff, den Paulus (wie Philo und Josephus!15) aufnimmt, wird dadurch doppelt
interpretabel: Was den Heiden, die kein Gesetz haben, anhand der Natur klar sein müsste, ist dem Israeliten durch die Thora überdeutlich (vgl. Röm 2,12.14-15). Dieser Zusammenhang paulinischer Theologie wird von Wolter S. 153 Absatz 3 schlicht ausgeblendet.

(4) Wenig überzeugend ist, Paulus die Nichtberücksichtigung der „sexuellen Identität“ vorzuwerfen (S 153) – personale Identitätskonzepte entstehen überhaupt erst im 20. Jahrhundert und sie führen zur Fortschreibung, nicht zur Ausradierung früher formulierter Anthropologie. Der Kniff, „homosexuelle Identitäten“ als Leerstelle bei Paulus zu behaupten, die er noch nicht im Blick gehabt habe, scheitert im Übrigen formallogisch an der Tatsache, dass damit lediglich ein Holonym eingeführt wird, dessen Meronym „homosexueller Handlungen“ neuzeitlicher Menschen mit „homosexueller Identität“ aber immer noch nichts anderes sind als eben homosexuelle Handlungen. Der behauptete Ausnahmecharakter bleibt somit logisch unbegründet.

(5) Sicher schließt sich Paulus an ein „antipaganes jüdisches Stereotyp“ an (S. 153) und verschärft es durch die Aufnahme des φύσιϛ-Begriffes. Die Pointe seiner Argumentation ist jedoch deren fortgesetzte Ausweitung, so dass an deren Ende „alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind“ (3,9) – dies wird durch die vielfältigen Beispiele erwiesen – und „ohne Verdienst gerecht werden aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist“ (3,24; vgl. dazu oben 3.3). Homosexuelle Handlungen aus diesem Gesamtzusammenhang durch die „Leerstellenargumentation“ sekundär wieder auszuklammern ist bei kohärenter Textinterpretation nicht möglich. Ebenso unmöglich ist es aber, sie als etwas Besonderes herauszuheben und exklusiv im Gegensatz zu anderen der genannten Erweise grenzenloser Erlösungsbedürftigkeit mit sozialer Ausgrenzung zu belegen (16). In dieser Hinsicht wird man sich der Warnung vor einer Instrumentalisierung dieser Stellen anschließen können. Die Fragen, die sich aus Röm 6 an die Heiligung als „christusgemäßem Leben“ stellen, betreffen das volkskirchliche Selbstverständnis insgesamt und können nicht exklusiv auf eine Personengruppe bezogen werden.

Wolters Kommentar zeigt die Gefährdung der Exegese für Abhängigkeiten durch den zeitgeschichtlichen Kontext auf – gerade in der Differenz zu früheren Auslegungen und der Beobachtung, dass diese nicht auf analytischem, sondern auf konstruktivem Wege durch Eintragungen zustande kommt.

Fußnoten:

(1) http://www.bild.de/politik/inland/gleichberechtigung/wenn-zwei-aus-liebe-heiraten-wer-will-das-einschraenken-41151346.bild.html
(2) Jochen Cornelius-Bundschuh: Sexuelle Vielfalt als Herausforderung in Kirche und Gesellschaft. Vortrag in Walldorf am 22. März 2015: http://www.ekiba.de/html/aktuell/aktuell_u.html?t=3e7e528ecb9a5cb339ca7e2e6bac1c76&tto=d050170b&&cataktuell=&m=13523&artikel=7697 ebenso in: Pforzheimer Zeitung 9. Mai 2015, S. 4
(3) https://www.youtube.com/watch?v=VLf-umCdAkg
(4) http://www.kath.net/news/50257; https://www.facebook.com/johannes.hartl.100/posts/1117376658288330
(5) Vgl. ausführlich: Gerrit Hohage: Ehe, Familie, Gender Teil 1: http://goo.gl/sHqsnF
(6)  Dass der Begriff „Ehe“ als Abstraktsubstantiv für das, was Jesus mit diesen sechs Kennzeichen beschreibt, erst später in Mode kam, braucht dabei nicht zu verwirren. Man hatte vorher schlicht andere Worte (Vorgangsverben wie „heiraten“ oder personal bezogene Substantive wie „ihr Mann“ oder „seine Frau“), um die Sache zu beschreiben.
(7) Als Beispiel für so etwas werden gerne Ruth und Noomi im biblischen Buch Ruth angeführt – die verstanden ihre Treue aber nicht als „Ehe“, sondern als Schicksalsgemeinschaft, die von der späteren (zweiten) Ehe unterschieden wird
(8) Luise Schottroff: Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth, Stuttgart 2013, S. 100
(9) Vgl. Punkt 2 der EKD-Studie „Mit Spannungen leben“: https://www.ekd.de/familie/spannungen_1996_2.html
(10) Vgl. zum Ganzen Gerrit Hohage: Ehe, Familie, Gender Teil 2, S.23-32:  http://www.netzwerkbaden.de/fileadmin/Webdocuments/Ehe_und_Familie__Menschenbild__Gender-Diskussion/_01a__Ehe_Familie_Gender_-_Teil_2_-_Gerrit_Hohage.pdf sowie demnächst: „Bibel, Homosexualität und die evangelische Theologie auf http://www.netzwerk-baden.de
(11) Das Original steht unter http://www.mariowahnschaffe.de/blog/einzelpredigten/prof-dr-siegfried-zimmer-und-die-schwule-frage
(12) Vgl. dazu Gerrit Hohage: Ehe, Familie, Gender Teil 2, a.a.O. (vgl. den Link oben Fußn. 10
(13) Vgl. J. Schneider: ὁµοίος κτλ, ThWNT V (1954) 186-188 (187,9-10); R. Jewett: Romans (Hermeneia), Minneapolis: Fortress Press, 2007, S. 178: „The link between the two sentences clarifies that both male and female homoeroticism are seen as evidence of the same πάθη ἀτιµίας („passions of dishonor“). In the context of natural versus unnatural intercourse, the aorist participle ἀφέντες („abandonning“) is the rough equivalent of the term „exchange“ in v. 26b.“
(14) Luise Schottroff, a.a.O. S. 100 führt im Gegensatz zu Wolter aus: „Paulus bewertet die gleichgeschlechtliche Beziehung von Männern (1 Kor 6,9; Röm 1,27) und Frauen (Röm 1,26) negativ, weil er sie als Eingriff in die Schöpfung versteht und dadurch als Entehrung der eigenen Körper (Röm 1,24.25).“
(15) Philo: Von den Einzelgesetzen I, 325; III, 37-43; Josephus: Gegen Apion II, 199 interpretieren dabei die φύσιϛ vom alttestamentlichen Gesetz her.
(16) In meinem Text „Ehe, Familie, Gender Teil 2“ (a.a.O, vgl. oben den Link in Fußn. 10) S. 26f. habe ich einen ersten Versuch gemacht, die Gesamtargumentation des Paulus Röm 1-3 für die konkrete Verarbeitung dieser Stelle fruchtbar zu machen. Ein ausführlicherer Versuch, die verschiedenen Verarbeitungsmöglichkeiten einander gegenüberzustellen, wird in Kürze folgen unter dem Titel: „Bibel, Homosexualität und die evangelische Theologie“:  http://www.netzwerk-baden.de/fileadmin/Webdocuments/Ehe_und_Familie__Menschenbild__Gender-Diskussion/_07__-_Bibel_Homosexualitaet_und_die_evangelische_Theologie_-_Gerrit_Hohage.pdf
Vgl. außerdem: Michael Diener: Hermeneutik und  Homosexualität als bleibende Herausforderungen für die Gemeinschaftsbewegung. Grundsätzliche und seelsorgerliche Überlegungen. Präsesbericht 2014, S. 26ff. http://www.gnadauer.de/cms/fileadmin/bilder/themen_texte/pr%C3%A4sesberichte/Pr%C3%A4sesbericht_2014.pdf