Dekalog: Das neunte Gebot

Dr. Christian Schwark erklärt in dieser Artikelserie die 10 Gebote (nach reformierter Zählung). Diese Artikel sind bereits bei idea erschienen.
Der Artikel wird von einer Video-Predigt von Pfarrer Schwark ergänzt.

Alle Texte dieser Serie können auch als Hardcover Buch im Lichtzeichenverlag bestellt werden.

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Das neunte Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten (2. Mose 20,16)

Wann haben Sie das letzte Mal gelogen? Wie oft kommen kleine und große Lügen im Alltag vor? Ich nenne mal ein paar Beispiele: Fangen wir mit der Übertreibungslüge an. Man erzählt etwas und macht die Sache größer als sie ist. Oder man gibt etwas vor, was eigentlich gar nicht richtig da ist. Ein Pfarrer hat einmal gesagt: „Es wird nirgendwo so viel gelogen wie in der Kirche.“ Denken wir z.B. an Taufen. Da versprechen Taufeltern und Paten, ihre Kinder im christlichen Glauben zu erziehen. Im Taufgespräch sprechen wir darüber, dass dazu auch das Mitleben in der christlichen Gemeinde gehört. Der Gottesdienst. Wie viele versprechen das und werden nach der Taufe nie wieder gesehen in der Gemeinde. Vielleicht zur Konfirmation des Kindes, da kommt man dann wieder. Natürlich möchte man irgendwie etwas mit Gott zu tun haben. Aber so richtig ernst machen möchte man auch nicht. Die Leidtragenden sind letztlich die Kinder, die getauft werden. Ihnen wird eine große Chance genommen, Jesus kennen zu lernen. Nun wollen wir aber nicht nur auf Nichtchristen oder „Volkskirchenchristen“ schauen. Wie ist das bei frommen Leuten? Wird da nicht auch oft Falsches erzählt? Wie oft versprechen wir z.B. für einen anderen zu beten und tun es dann doch nicht? Oder wir sagen: „Ich bin überzeugter Christ.“ Aber in Wirklichkeit haben wir ganz viele Fragen und Zweifel. Haben wir nach außen hin eine fromme Fassade, hinter der es ganz anders aussieht? Wäre es nicht gut, wenn wir ehrlicher miteinander umgehen würden? Und schaden wir nicht auch anderen, wenn wir in diesem Sinne nicht ehrlich sind? Positiv gesagt: Wenn einer anfängt, ehrlich zu reden, werden andere ermutigt, das auch zu tun. Wenn einer z.B. zugibt: „Das verstehe ich nicht, hier habe ich meine Fragen“, sagen andere vielleicht: „Gut, dass das mal einer ausspricht. Mir geht das auch so.“ Und man kann die Sache offen besprechen.

Dann gibt es Lügen, bei denen es darum geht, sich Vorteile zu verschaffen. Bei Kindern ist es oft die Frage, wer irgendetwas kaputt gemacht hat. Dann heißt es oft: „Ich war es nicht.“ Oder: „Das war schon.“ Wie ist das bei Erwachsenen? Da sind wir natürlich geschickter. Aber das Prinzip ist das Gleiche. Wenn irgendwo etwas schief läuft, sagen wir vielleicht: „Der andere hat mich nicht richtig verstanden.“ Oder: „Ich bin nicht informiert worden.“ Obwohl das keineswegs eindeutig ist. So werden andere schlecht gemacht, damit man selbst gut dasteht. Wir beobachten das auch öfter in der Politik und in der Wirtschaft. Wenn irgendwo etwas schief läuft, will es keiner gewusst haben. Der Minister weiß nicht, was in seinem Ministerium vorgeht. Der Chef weiß nicht, was in seinem Unternehmen vorgeht. Niemand hat von irgendetwas gewusst. Denken wir z.B. an die gefälschten Abgaswerte bei Dieseln. Offenbar hat sich die Software, die die Abgaswerte manipuliert hat, von selbst in die Autos eingebaut. Oft kommt die Wahrheit erst scheibchenweise ans Licht. Man gibt sich dann zerknirscht und gibt das zu, was eh schon alle wissen. Wir können fragen: Sind wir in unserem persönlichen Leben besser? Oder machen wir das ganz ähnlich? Vertuschen wir auch Dinge, bei denen wir nicht wollen, dass sie jemand erfährt? Wenn so etwas dann rauskommt, ist die Verletzung umso größer. Wenn z.B. ein Ehepartner den anderen betrügt, ist der Betrug oft mindestens so schlimm wie das Fremdgehen selbst. Oder auch in finanziellen Dingen. Ich kenne eine Frau, die nach dem Tod ihres Mannes eine schlimme Entdeckung machte: Ihr Mann hatte sie jahrelang finanziell hinters Licht geführt. Er hatte ihr immer vermittelt, dass mit dem Geld alles in Ordnung ist. Als sie nach seinem Tod die Unterlagen sortierte, merkte sie: Ich sitze auf einem Haufen Schulden. Zu der Trauer kam noch die große Enttäuschung. Und keine Chance mehr, das mit ihm zu klären!

Es gibt auch Lügen, wenn man irgendetwas anpreisen will. In der Werbung zum Beispiel. Manche können ein Lied davon singen. Sie haben irgendetwas gekauft oder vielleicht eine Reise gebucht und merkten dann: Da wurde mir etwas versprochen, was nicht stimmt. Das Gleiche kann es übrigens auch in der Mission geben. Es gibt Christen, die sagen: „Glaube an Jesus, und du hast keine Probleme mehr.“ Manchmal sogar: „Glaube an Jesus, und du wirst reich und bist immer gesund.“ Stimmt das? In der Bibel ist das ganz anders: Jesus sagt seinen Jünger, dass sie ihr Kreuz auf sich nehmen sollen (Matthäus 16,24). Das heißt, dass sie einen schweren Weg gehen müssen. Natürlich ist Christsein auch etwas ganz Großartiges. Im Leben mit Jesus kann ich in einer Geborgenheit leben, die ich sonst nirgendwo habe. Und ich habe eine Hoffnung, die größer ist als alle Hoffnungen, die es in dieser Welt gibt. Aber das heißt nicht, dass ich keine Probleme mehr haben werde. Im Gegenteil: Christen werden oft ausgestoßen oder sogar verfolgt. Das müssen wir ehrlich sagen. Sonst versprechen wir auch etwas, was nicht stimmt. Und letztlich werden sich die Leute dann vom Glauben wieder abwenden. So wie einer, der sagt. „Da, wo mich die Leute übers Ohr gehauen haben, kaufe ich nie wieder.“

Jetzt sagt einer: „Man muss doch nicht immer alles sagen. Wenn ich etwas weglasse, ist das doch keine Lüge.“ „Wirklich nicht?“, frage ich zurück. Eine kleine Geschichte dazu (aus: In Bildern reden, hg. v. Heinz Schäfer): Ein Gastwirt warb für die Spezialität seines Hauses: Wachtel-Terrine mit Rindfleisch! Darunter stand der sehr günstige Preis. Ein Gast erkundigte sich beim Wirt, in welchem Verhältnis denn Wachtel- und Rindfleisch in der Terrine enthalten seien. Er erhielt die Antwort: eins zu eins! Später fragte ein Freund den Gastwirt: Ist das Verhältnis wirklich eins zu eins? Ja, bestätigte der Wirt, eine Wachtel auf eine Kuh! Hat der Wirt die Wahrheit gesagt? Formal ja. Aber irgendwie auch nicht. So kann man Dinge verfälschen, indem man einfach etwas weglässt.

Schließlich gibt es auch noch ganz viele Lügen, wenn wir über andere reden. Wie viel Negatives wird über andere gesprochen! Man traut sich nicht, dem anderen das direkt zu sagen. Darum redet man hinter dem Rücken. Es gibt ein Sprichwort: Je feiger das Herz, desto größer die Zunge. Leider gibt es so etwas auch in der Gemeinde. Wie viel wird auch bei uns über andere hergezogen! Manchmal getarnt als Gebetsanliegen. Manche sagen auch: „Sag das dem mal, aber sag ihm nicht, das das von mir kommt.“ So entsteht ein Klima des Misstrauens in der Gemeinde. Es ist doch klar: Wer mir Schlechtes über andere erzählt, der erzählt auch anderen Schlechtes über mich. Was können wir tun? Wenn etwas Negatives zu sagen ist, rede ich direkt mit dem, den es betrifft. Und zwar allein. Jesus hat das in Matthäus 18,15-17 eindeutig so gesagt. Und wenn das nichts bringt? Dann nehme ich einen anderen dazu. Erst dann kann ich eine größere Öffentlichkeit suchen. Manchmal ist es auch besser, einfach zu schweigen. Man muss auch nicht über alles und jedes reden. Martin Luther hat einmal gesagt: „Lass die Sache lieber auf sich beruhen, als dass du den guten Namen des Betreffenden beeinträchtigst. Ein solcher unersetzlicher Wert ist der gute Name deines Nächsten. Ist die Sache, die du entdeckt hast, nicht derart, dass sie vor den Amtspersonen angezeigt werden muss, so schweige still.“ Und Luther bezeichnete einen Christen als einen „Schand-Deckel“ für den anderen; er deckt nicht auf, sondern tritt vor die Blöße des anderen. Dazu noch ein passendes Zitat von Paulus in Epheser 4,29: „Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist.“ Interessant, welche Kriterien Paulus hier nennt. Wir sollen über das reden, was gut ist, über das, was erbaut und über das, was notwendig ist. So können wir immer fragen: Rede ich über Gutes oder über Schlechtes? Hilft, das was ich sage, dass der Glaube wächst und die Gemeinde gebaut wird? Und sind diese Worte wirklich notwendig? Das heißt natürlich nicht, dass bei schlimmen Vergehen nicht offen darüber gesprochen werden muss. Ich nenne als extremes Beispiel den Missbrauch von Kindern. Da darf um der Opfer willen nichts vertuscht werden. Aber in den allermeisten Fällen geht es ja um ganz andere Dinge, wenn wir über andere reden.

Und wenn uns andere etwas erzählen? Dann können wir z.B. fragen: „Hast du schon mit demjenigen selbst darüber geredet?“ Manchmal ist es auch gut, selbst nachzufragen. Wenn ich Gerüchte höre, frage ich gerne den, um den es geht: „Ich habe gehört, dass… – stimmt das eigentlich?“ Fast immer stelle ich dann fest: Es stimmt nicht. Oder es ist zumindest ganz anders, als es erzählt wurde.

Beim Reden über andere müssen wir also ganz, ganz vorsichtig sein. Da werden viele Lügen erzählt. Falsche Zeugnisse über den Nächsten, um es in der Sprache des biblischen Gebotes zu sagen.

Nun fragt einer: „Muss man denn immer die Wahrheit sagen? Gibt es nicht auch Situationen, wo man besser nicht die Wahrheit sagt?“ Ein Beispiel sind Schwerkranke. Sollte man einem Sterbenskranken sagen, wie es um ihn steht? Natürlich sollten wir keine Angst machen. Aber ich frage einmal: Nehme ich einem Kranken nicht auch etwas, wenn ich ihm nicht sage, was er hat? Und dass er womöglich bald sterben muss. Vielleicht möchte er gerne noch etwas in Ordnung bringen. Vielleicht möchte er noch einmal neu anfangen im Glauben? Alles das kann er nicht, wenn wir nicht ehrlich sind am Krankenbett. Christen wissen darum, dass der Tod nicht das Ende ist. Sondern dass für alle, die mit Jesus leben, dann ein viel besseres Leben beginnt. Wer in dieser Hoffnung lebt, der kann auch offen über den Tod reden.

Es gibt aber tatsächlich auch Situationen, wo es nicht angebracht ist, formal richtige Antworten zu haben. Ein Beispiel finden wir in der Bibel selbst, in 2. Mose 1,15-21: Das Volk Israel ist in Ägypten und muss Zwangsarbeit leisten. Die Ägypter haben Angst, dass sie zu stark werden. Da befiehlt der König von Ägypten den hebräischen Hebammen: „Wenn ihr bei einer Geburt dabei seid, und es ist ein Sohn, dann müsst ihr ihn töten.“ Was tun die Hebammen? Sie widersetzen sich dem Befehl. Und als der König sie zur Rede stellt, sagen sie: „Die hebräischen Frauen sind kräftige Frauen. Sie gebären so schnell, dass wir als Hebammen es gar nicht schaffen, zu ihnen zu kommen.“ Man könnte sagen, eine glatte Lüge. Und was sagt Gott dazu? Da lesen wir: „Darum tat Gott den Hebammen Gutes. Und weil die Hebammen Gott fürchteten, segnete er ihre Häuser.“ Warum ist es hier gut, dass die Hebammen die Situation anders dargestellt haben, als sie wirklich war? Weil hier ein Herrscher etwas befohlen hatte, was Gottes Willen eindeutig widerspricht. Und dann gilt das, was wir in Apostelgeschichte 5,29 lesen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Das bedeutet auch, dass man sozusagen „lügen“ kann, um Gottes Willen zu tun. Hier, um Menschen zu schützen. Eine ähnliche Situation gibt es öfter in Diktaturen. Da hat z.B. ein Christ in der Nazizeit Juden versteckt. Die Gestapo bekommt Wind davon und macht eine Hausdurchsuchung. Die Polizisten fragen: „Haben sie Juden versteckt?“ Was soll der Christ antworten? Soll er wahrheitsgemäß sagen: „Ja, sie sind in einem Versteck hinter dem Kleiderschrank“? Natürlich nicht. Denn hier geht es darum, Menschen zu schützen. Ich las dazu ein gutes Kriterium: Nur wenn jemand nach Gottes Willen ein Fragerecht hat, besteht eine Antwortpflicht. Wobei es hier nicht um uns selbst geht. Das ist also keine Rechtfertigung für Notlügen, wenn wir selbst bei irgendetwas ertappt werden. Aber wenn es um andere geht, die Gott schützen möchte, dann heißt wahrhaftig sein unter Umständen: etwas sagen, was nicht formal richtig ist. Was aber im Sinne von Gottes Wahrheit sehr wohl richtig ist. 

Jesus sagt von sich: „Ich bin die Wahrheit.“ (vgl. Johannes 14,6) Er verkörpert sozusagen die Wahrheit. Die Wahrheit Gottes. In seinem Licht wird alle Lüge enttarnt. Wenn wir nah bei Jesus sind, setzt sich die Wahrheit letztlich durch. Das Leben mit Jesus kann uns helfen, die Wahrheit zu sagen. Das tut uns und anderen gut. Und Gott freut sich darüber.