Dekalog 5: Ehre Vater und Mutter
Dr. Christian Schwark erklärt in dieser Artikelserie die 10 Gebote (nach reformierter Zählung). Diese Artikel sind bereits bei idea erschienen.
Der Artikel wird von einer Video-Predigt von Pfarrer Schwark ergänzt.
Alle Texte dieser Serie können auch als Hardcover Buch im Lichtzeichenverlag bestellt werden.
Das fünfte Gebot: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird (2. Mose 20,12)
Was tun wir, wenn wir jemanden ehren? Für uns ist das meistens zuerst eine Frage der Einstellung. Wer geehrt wird, der ist etwas ganz Besonderes. Der hat ein besonderes Ansehen. Das heißt nicht unbedingt, dass er mehr Geld oder sonst irgendwelche Vorteile hat. Wir sprechen ja auch von ehernamtlichen Mitarbeitern. Die setzen sich ein, ohne dafür bezahlt zu werden. Die sind ganz wichtig und wertvoll für unsere Gemeinden. Die Eltern zu ehren bedeutet also zuerst zu sehen: Meine Eltern sind ganz wichtig und wertvoll für mich. Selbst dann, wenn sie vieles falsch gemacht haben. Denn klar ist: Ohne meine Eltern würde es mich nicht geben. Ohne meine Eltern wäre ich nicht der, der ich bin. Und meine Eltern haben doch einiges für mich getan: Sie haben wegen mir manche schlaflose Nacht gehabt, sie haben mir zu essen und zu trinken gegeben, sie haben sich mit mir auseinander gesetzt. Und vieles mehr. So haben wir allen Grund, unsere Eltern zu ehren. Wie wäre es, es ihnen einmal zu sagen. Z.B.: „Mama, Papa, danke für alles, was ihr für mich getan habt.“ Auch wenn nicht gerade Muttertag oder sonst ein besonderer Tag ist. Wer noch Eltern hat: Nutzt die Zeit, solange sie noch am Leben sind! Es ist schade, sich nach dem Tod der Eltern sagen zu müssen: „Hätte ich ihnen doch mal gesagt, wie viel sie mir bedeutet haben!“
Im Judentum wurde Ehrerbietung noch weitergehend verstanden. Da war es wichtig, dass die Ehrerbietung auch ganz praktisch geschieht. Damals gab es ja keine Rentenversicherung. Da waren Menschen, die älter wurden, auf ihre Kinder angewiesen. Die Eltern zu ehren, bedeutete dann, die Eltern ganz praktisch zu unterstützen. Und heute? Es wäre aber zu billig zu sagen: „Wir haben ja heute einen Sozialstaat, da gilt das nicht mehr.“ Man kann immer wieder in Zeitungen lesen, wie groß die Gefahr von Altersarmut ist. Das Gebot, die Eltern zu versorgen, kann also sehr schnell wieder aktuell werden. Aber es ist ja nicht nur das Geld. Eltern zu ehren, gerade wenn sie alt werden, bedeutet ja auch: Zeit für sie zu haben. Sie zu besuchen zum Beispiel. Auch dann, wenn sie ein bisschen sonderbar werden. Dazu eine kleine Geschichte, die der christliche Arzt Jung-Stilling erzählt: Der alte Großvater ging gebrechlich daher und zitterte an seinem Stock. Er hatte keine Zähne mehr und hörte und sah nicht viel. Wenn er am Tisch saß und zitterte, so verschüttete er häufig Essen, und es floss ihm auch zuweilen wieder etwas aus dem Mund. Das ekelte dann seinen Sohn und dessen Frau, und deswegen musste der alte Großvater endlich hinter dem Ofen in seiner Ecke essen. Sie gaben ihm etwas in einem Tonschüsselchen, und er wurde nicht einmal satt. So sah er betrübt nach dem Tisch, und die Augen wurden ihm nass. Neulich hat er sein Tonschüsselchen zerbrochen. Die junge Frau schimpfte sehr mit ihm, er sagte aber nichts, sondern seufzte nur. Sie kaufte ihm ein Holzschüsselchen für ein paar Pfennige, und daraus musste er gestern Mittag zum ersten Mal essen. Als sie saßen, schleppte der kleine Junge auf der Erde kleine Brettchen zusammen. Der junge Mann fragte: „Was machst du da, Peter?“ „Ich mache einen Trog“, sagte das Kind. „Daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.“ Der Mann und seine Frau sahen sich eine Weile an. Dann holten sie den alten Großvater wieder an den Tisch und ließen ihn mitessen. Wir sehen, wie wichtig es ist, ganz konkret für die Eltern da zu sein. Auch für uns selbst. Gottes Gebote sind manchmal unbequem. Aber immer ist es für uns selbst gut, wenn wir nach ihnen leben.
Nun fragt vielleicht jemand: „Muss ich denn immer alles für meine Eltern tun? Muss ich sie z.B. selbst pflegen, wenn es über meine Kräfte geht?“ Hier ist es wichtig, keine falsche Gesetzlichkeit zu haben. Das Gebot heißt: Du sollst Vater und Mutter ehren. Es heißt nicht: Du sollst Vater und Muter zuhause pflegen. Natürlich ist es ein ganz starker Ausdruck von Liebe zu Zuwendung, einen anderen Menschen zu pflegen. Ich habe große Hochachtung vor Menschen, die einen Angehörigen pflegen. Das ist etwas ganz Wertvolles! Aber es gibt auch Situationen, wo das einfach nicht geht. Wenn der Platz nicht ausreicht. Wenn die Kinder ganz woanders wohnen und der ältere Mensch nicht seine vertrauten Umgebung und die vertrauten Menschen verlassen möchte. Oder wenn das Miteinander so anstrengend ist, das der Sohn oder die Tochter irgendwann zusammenbrechen. Damit ist auch niemandem geholfen. Wir sollten also nicht mit Fingern auf andere zeigen und denken oder sagen: „Der kümmert sich nicht um seinen Vater oder seine Mutter, weil er ihn oder sie ins Heim gibt.“ Wir müssen hier immer abwägen. Aber eben nicht fragen: „Wie stelle ich es an, dass die Alten mich möglichst wenig stören?“ Sondern nüchtern überlegen: Was ist für sie jetzt das Beste? Und wenn es ein Heim sein muss, kann man Besuche machen, gemeinsam Ausflüge machen oder regelmäßig telefonieren.
Wir haben im Neuen Testament eine Auslegung des Gebotes, die Eltern zu ehren. Und zwar im Epheserbrief: Da lesen wir: „Ihr Kinder seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn.“ Und dann wird das begründet mit dem Gebot, Vater und Mutter zu ehren (Epheser 6,1+2). Gehorsam sein, das ist heute „mega out“. Ja, aber das hat Gott sich so vorgestellt. Dass Kinder ihren Eltern gehorchen. Dass sie tun, was die Eltern sagen. Da bedeutet natürlich nicht, dass Eltern das einfach ausnutzen dürften. Im Epheserbrief steht auch, dass die Väter ihre Kinder nicht zum Zorn reizen sollen (Epheser 6,4). Zwei Einschränkungen dazu: Paulus schreibt, dass die Kinder den Eltern gehorsam sein sollen „in dem Herrn“. Das heißt: Wenn die Eltern etwas verlangen, was der Herr nicht will, dann zählt das, was Gott will. Und nicht das, was die Eltern wollen. Ich weiß von Eltern, die ihren Kindern verbieten, in christliche Gruppen zu geben. Da müssen Kinder nicht gehorchen. Die zweite Einschränkung: Mancher fragt: „Muss ich denn meinen Eltern immer gehorchen? Auch wenn ich selbst schon erwachsen bin? Meine Eltern dürfen mir doch nicht vorschreiben, wen ich heirate und welchen Beruf ich ergreife.“ Paulus spricht ausdrücklich die Kinder an. Das bedeutet, hier geht es um Minderjährige. Wenn ein Kind erwachsen wird, endet der Erziehungsauftrag der Eltern. Aber auch dann bleibt das Gebot, die Eltern zu ehren. Das bedeutet, dass ich nicht zu meinen Eltern sage: „Was ihr sagt, interessiert mich nicht die Bohne!“ Sondern dass ich ihre Meinung höre und ruhig und freundlich mit ihnen rede.
Die Eltern zu ehren kann sehr unterschiedlich aussehen. Überlegen Sie: Was bedeutet es für mich, meine Eltern zu ehren? „Und wenn meine Eltern nicht mehr am Leben sind?“, fragt jetzt vielleicht jemand. Dann können Sie Ihre Eltern sozusagen in der Erinnerung ehren. Im Gebet für sie danken zum Beispiel.
Manchmal ist es leicht, die Eltern zu ehren. Dann wenn man merkt: Sie sind gut zu mir und sie helfen mir. Aber es gibt auch Situationen, da ist es sehr schwer, Eltern zu ehren. Es gibt Menschen, die wurden von ihren Eltern bevormundet, verlassen oder sogar misshandelt. Was soll man dann tun? Zunächst hilft es zu sehen: Zumindest ein Stück weit können wir bei Gott die Geborgenheit erfahren, die wir bei den Eltern nicht oder nicht mehr erfahren können. In Psalm 27,10 heißt es: „Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf.“ Gott ist der gute Vater, der uns liebt wie eine Mutter. Aber es bleibt die Frage: Was ist bei schmerzhaften Erfahrungen mit den Eltern? Soll und kann man dann überhaupt seine Eltern ehren? Natürlich ist das dann ganz schwer. Und wir sollten uns hüten, zu schnell zu sagen: „Du solltest jetzt mal dein Eltern ehren!“ Die Frage ist nur: Was ist die Alternative? Viele Menschen laufen mit einem inneren oder äußeren Groll auf ihre Eltern herum. Sie denken immer wieder daran, was die Eltern ihnen angetan haben. Hilft das? Ich glaube kaum. Wer immer nur daran denkt, wie schrecklich alles war oder ist, der macht es sich selbst viel schwerer. Die Eltern ehren, kann in solchen Situationen erst einmal heißen: ihnen zu vergeben. Wenn ich meinen Eltern vergebe, werde ich innerlich frei. Frei von dem Negativen, was ich vielleicht erlebt habe. Das geht nicht von heute auf morgen. Aber wenn ich vergebe, kann ein innerer Heilungsprozess einsetzen. Das kann übrigens auch dann noch geschehen, wenn meine Eltern nicht mehr leben. Denn das, was ich mit ihnen erlebt habe, wirkt über den Tod hinaus. Den Eltern zu vergeben hilft auch bei den kleinen oder großen Auseinandersetzungen im Alltag. Auch wenn man sich im Prinzip gut versteht, gibt es ja immer wieder Dinge, über die man sich ärgert.
Wenn ich durch Vergebung innerlich frei werde, werde ich entlastet. Dann geht es mir selbst besser. Das kann auch Auswirkungen haben auf die Gesundheit. Das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, ist in der Bibel mit einem besonderen Zuspruch verbunden: „…auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird“ (vgl. auch Epheser 6,2+3). Wer im Frieden mit seinen Eltern lebt, hat es also leichter. Nicht erst nach dem Tod. Sondern schon jetzt. Wer ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern hat, kann innerlich frei sein und bleibt deshalb oft auch länger gesund. Es hilft sich das klar zu machen. Denn so kann ich meinen Eltern leichter vergeben und sie besser ehren.
Und wenn es mir schwer fällt, meinen Eltern zu vergeben? Es ist gut, einfach mal anzufangen. Also nicht erst zu warten, bis ich keine negativen Gedanken und Gefühle mehr habe. Sondern sich trotz allem Negativen vor Gott festzulegen. Und zum Beispiel im Gebet zu sagen: „Herr, du weißt, was meine Eltern mir angetan haben. Ich möchte ihnen vergeben. Hilf mir, das auch zu empfinden.“ Es kann auch gut sein, sich daran zu erinnern: Was habe ich eigentlich falsch gemacht? Es sind ja nicht nur meine Eltern an mir schuldig geworden. Sondern bestimmt bin ich auch an meinen Eltern schuldig geworden. Manchem fällt das erst ein, wenn die Eltern nicht mehr leben. Wie schön, dass Jesus mir alle meine Schuld vergibt. Er sagt mir zu: „Ich habe alle deine Schuld am Kreuz getragen. Auch das, was du deinen Eltern schuldig geblieben bist.“ Wer diese Vergebung erfährt, der kann eigentlich nicht anders, als auch an anderen zu vergeben. Auch den Eltern. So wie es in Vaterunser heißt: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“
Übrigens muss jemandem zu vergeben nicht heißen, eine enge Beziehung zu haben. Manchmal ist Abstand auch ganz gut. Damit nicht alte Wunden aufreißen. Das gilt auch für das Verhältnis zu den Eltern. Die Eltern zu ehren schließt nicht aus, etwas Abstand zu haben. Zu anderen Leuten, die geehrt werden, habe ich auch nicht immer eine enge Beziehung. Oder haben Sie eine enge Beziehung zum Bundespräsidenten? Wohl kaum. Aber der Bundespräsident wird in unserem Land geehrt. So kann es im Verhältnis zu den Eltern manchmal helfen, nicht ganz so eng zusammen zu sein. Übrigens heißt es schon in der Schöpfungsgeschichte, dass ein Mann Vater und Mutter verlässt und an seiner Frau hängt. Manchmal muss man das auch wörtlich nehmen. Natürlich ist es schön, wenn man sich gut versteht und vielleicht sogar in einem Haus zusammen wohnt. Es ist wunderbar, wenn so etwas möglich ist. Aber wenn das nicht so geht, ist es besser, etwas Abstand zu haben, als sich ständig zu nerven.
Schließlich gilt für das Verhältnis zu den Eltern das, was auch in allen anderen Beziehungen gilt: Man kann immer zuerst auf das Negative oder zuerst auf das Positive schauen. So kann ich mich mit dem beschäftigen, was schlecht ist bei meinen Eltern. Oder ich kann zuerst fragen: Was sind denn die guten Seiten bei ihnen? Und was haben sie Gutes für mich getan? Das hilft einen anderen Blick zu bekommen und die Eltern zu ehren.
Vielleicht möchten Sie ja heute noch einen Schritt auf die Eltern zugehen. Ihnen etwas Nettes sagen, etwas mit ihnen unternehmen. Oder für sie danken, wenn sie nicht mehr da sind. Oder auch, ihnen bewusst vergeben, wenn es belastende Erfahrungen gab oder gibt. Wir tun uns selbst etwas Gutes damit.