Christlicher Wahrheitsanspruch im Zeitalter des Postmodernismus

Prof Dr. Dr. Daniel von Wachter, Philosoph und Direktor der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, www.von-wachter.de, hielt am 5.11.2016 beim Studientag der VBG (Vereinigten Bibelgruppen) in Bern einen Vortrag zum Thema „Nur eine Wahrheit? Christsein in einer pluralen Gesellschaft“. Das nachstehende Manuskript enthält die Grundaussagen des einstündigen Vortrags.

Das Video mit dem Vortrag selbst finden Sie unter  https://youtu.be/NoBYXWV2NCs .
(oder auf der Webseite von begruendet-glauben.org)

Die MP3-Datei des Vortrages finden Sie unter http://oriel.bplaced.net/vbg/Wachter-2016-11-05-Wahrheit.mp3 .

Daniel von Wachter ist Mitglied der Fortsetzungsgruppe unseres Netzwerks Bibel und Bekenntnis.


„Postmoderne“

Was ist die Postmoderne? Eine bestimmte Gruppe von Autoren, insbesondere Jean-François Lyotard (1924–1998), Jacques Derrida (1930–2004), Michel Foucault (1926–1984), Richard Rorty (1931–2007). Sie schreiben eigentümliche Dinge wie: „Es ist sinnlos, im Namen der Vernunft, der Wahrheit oder des Wissens zu sprechen.“ (Foucault); „Vernunft ist die äußerste Sprache des Wahnsinns.“ (Foucault) „Vernunft und Macht sind ein und dasselbe.“ (Lyotard) „Wahrheit ist nicht dort draußen.“ „We should drop the topic.“ (Rorty)

Sie schreiben nicht nur selbst solche Dinge, sie behaupten auch noch, daß wir heute im Zeitalter Postmoderne leben, und meinen damit, daß wir alle oder die meisten Menschen heute so denken. Stimmt das? Die vier genannten Männer und ihre Anhänger sagen das, aber dieser Aussage liegen keinerlei empirische Untersuchungen zu Grunde. Sie wollen Menschen von der Wahrheitssuche abbringen. Die Postmodernisten sagen Dinge wie „Es ist sinnlos, von Wahrheit zu sprechen“ nicht, weil die meisten Menschen heute so denken, sondern weil sie die Menschen dazu bringen wollen, so zu denken. Die Postmoderne, oder besser gesagt der „Postmodernismus“, ist nicht eine Analyse des Denkens einiger oder aller Menschen heute, sondern er besteht aus diesen Aussagen. Der Postmodernismus ist nicht das Denken unserer Zeit, sondern einer Gruppe von Autoren.

Aussagen über „das Denken“ einer bestimmten Epoche sind sowieso zweifelhaft, denn obwohl es Moden und vorherrschende Meinungen gibt, gibt es immer auch ganz entgegengesetzte Meinungen. Wenn gesagt wird, heute seien wir in einer bestimmten Epoche und da denke man soundso, oder da könne man nur noch soundso denken, sonst sei man nicht zeitgemäß, dann ist das irrational oder manipulativ. Ein vernünftiger Mensch läßt sich von solchem Gerede nicht beeinflussen, sondern bemüht sich, unabhängig zu denken und selbst nach Wahrheit zu suchen. Man kann man sich gegen eine Mode entscheiden und anders denken.

Die Aussage der Postmodernisten „Es ist sinnlos, von Wahrheit zu sprechen“, ist natürlich falsch. Das Wort „Wahrheit“ ist ein einwandfrei funktionierendes Wort der deutschen Sprache. Es bezeichnet eine bestimmte Eigenschaft von Überzeugungen und von Behauptungen. Wahrheit kommt häufig vor. Wenn zum Beispiel einer glaubt, daß es heute noch Dinosaurier gibt, und ein anderer, daß es heute keine Dinosaurier mehr gibt, hat einer von ihnen eine wahre Überzeugung.

Leute, die sagen, Wahrheit gebe es nicht oder sei nicht erreichbar, verwenden dabei oft einen verzerrten Wahrheitsbegriff. Wenn sie überhaupt versuchen, für ihre These zu argumentieren, weisen sie darauf hin, daß wir uns stets irren können. Sie sind so enttäuscht darüber, daß wir Menschen fehlbar sind, daß sie anfangen, Wahrheit überhaupt abzulehnen. Hier müssen wir uns klarmachen, daß Wahrheit nicht Gewißheit ist. Alle unsere wahren Überzeugungen sind fehlbar und haben nur einen bestimmten Grad an Gewißheit.

René Descartes hat im 17. Jahrhundert in der Philosophie damit begonnen, absolute Gewißheit zu fordern. Er wollte einen archimedischen Punkt des Wissens und nur das zur Wissenschaft zählen, was absolut gewiß ist. Aber so funktioniert Wissenschaft nicht. Wissenschaft funktioniert durch die Bildung von Hypothesen, die dann durch Beobachtungen gestützt und geprüft werden. Fehlbar ist der Mensch immer, das gehört zu seinem Wesen. Die überzogene Forderung nach Gewißheit ist typisch für die christentumskritischen Philosophen ab dem 17. Jahrhundert. Immanuel Kant hat sie auch stark vertreten. Sie führt zur These, daß wir nichts wissen können oder daß wir nichts über die Dinge an sich wissen können. Denn es ist natürlich richtig, daß wir nichts oder fast nichts unfehlbar über die Dinge wissen können. Wir können viel Wissen erlangen, aber es ist fehlbares Wissen mit mehr oder weniger Gewißheit. Nichtchristliche Philosophen finden es manchmal schwer, damit zufrieden zu sein, und rufen dann, wie Foucault, „Es ist sinnlos, im Namen der Vernunft, der Wahrheit oder des Wissens zu sprechen.“

Die Aussagen der Postmodernisten haben einen anderen Zweck als den, etwas Richtiges zu sagen. Sie wollen Aufmerksamkeit erregen, ablenken, verwirren oder Menschen davon abhalten, sich um Vernunft zu bemühen und nach Wahrheit zu suchen. Vernünftig denken heißt richtig denken. Um Vernunft kann man sich bemühen. Wenn man wahre Überzeugungen haben möchte, muß man nach Wahrheit suchen und sich bemühen, richtig zu denken. Aber Vernunft und Wahrheitssuche sind freiwillig. Manche Menschen lassen sich tatsächlich durch postmodernistische Aussagen in ihrem Streben nach Wahrheit und Vernunft schwächen. Insbesondere im Bereich der Religion, denken sie, könne man keine Wahrheit finden.

Nach Wahrheit zu suchen und nach Vernunft zu streben, ist oft hart und unangenehm. Durch Vernunft erkennen wir, welche unserer Neigungen schlecht oder irreführend sind. Viele Menschen finden es zum Beispiel viel angenehmer, wenn es keinen Gott gibt, besonders einen Gott, der sie persönlich anspricht und will, daß sie Buße tun. Deshalb ist es angenehmer, nicht gründlich zu untersuchen, ob es einen Gott gibt, und Gott einen lieben Mann sein zu lassen oder sich auf knackig klingenden Pseudoargumenten gegen die Existenz Gottes oder gegen die christliche Lehre auszuruhen.

Ob jemand Christ wird, hängt wesentlich davon, wie sehr er mit dem Herzen und mit dem Verstand nach Gott sucht. Gott zwingt uns nicht dazu, Buße zu tun und Christus anzunehmen. Er dringt nicht mit aller Macht in uns ein, sondern er steht vor der Tür und klopft an (Offb. 3,20). Bei Jeremia (29,13f) heißt es: „So ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr“. Die Indizien für die Existenz Gottes und für die Wahrheit des Evangeliums sind derart, daß sie nur auf den wirken, der sich Mühe gibt, die Wahrheit zu suchen.

Je weniger ein Mensch nach der Wahrheit über Gott sucht, desto unwahrscheinlicher ist es, daß er Christ werden wird. Je mehr jemand glaubt, daß man nach Wahrheit in Sachen Religion nicht zu suchen braucht, weil „Wahrheit“ sinnlos oder ein Herrschaftsinstrument ist, desto unwahrscheinlicher ist es, daß er Christ werden wird. Eine wirkungsvolle Strategie, um Menschen vom Evangelium abzuhalten, war Immanuel Kants Lehre, daß wir von Gott nichts wissen können. Der Postmodernismus ist eine neue Strategie, um dasselbe zu bewirken.

Wie sollen Christen auf den Postmodernismus reagieren? Ganz ungeschickt wäre es zu sagen: Die Menschen glauben nicht mehr an Wahrheit, daher müssen wir den christlichen Wahrheitsanspruch und die christliche Lehre in den Hintergrund stellen. Es ist richtig, daß wir uns bei einigen Zielgruppen – zum Beispiel Studenten – auf postmodernistisches Denken einiger Zuhörer einstellen müssen. Aber unser Ziel muß sein, daß diese Menschen wieder lernen, nach Wahrheit zu suchen. Um das Evangelium überhaupt verstehen zu können, müssen sie erst wieder vernünftig werden. Freundschaftliche Beziehungen zu ihnen aufzubauen, kann helfen, um ihren Blick auf das Evangelium zu lenken. Aber letztlich kommt es darauf an, daß wir sie dazu führen, sich zu fragen, ob das Evangelium wahr ist. Wir müssen vom Postmodernismus beeinflußten Menschen besonders erklären und betonen, daß es nicht darum geht, welches Weltbild wir mögen, sondern daß wir fragen sollten, welches Weltbild stimmt. Auch im Lebensstil und in der Gottesdienstgestaltung sollten wir uns nicht ihnen anpassen, sondern wir müssen uns bemühen, alles möglichst gut und nach Gottes Wünschen zu gestalten, und dann versuchen, Menschen für das Evangelium zu gewinnen. Wir brauchen nicht Kirchen, die sich in der Absicht, „seeker-friendly“ zu sein, an die nichtchristliche Umwelt anpassen, sondern Kirchen und Christen, die beständig in der Lehre sind und sich in allem um das Wahre, Gute und Schöne bemühen, und dadurch Menschen zu Jesus führen und Licht in der Welt sind.

Die Kraft der Wahrheit

Nochmal: Sollten wir nicht versuchen, postmodern geprägte Menschen dadurch zu gewinnen, daß wir die Wahrheitsbehauptungen und die Lehre des Christentums in den Hintergrund und Gefühl und Beziehungen in den Vordergrund stellen? Sind nicht die Wahrheitsbehauptungen und die Lehre des Christentums etwas Trockenes? Aus dieser Haltung heraus entstehen Predigten und Lieder, die versuchen, Gefühle anzuregen und sie nicht durch trockene Lehre zu stören.

Warum hatten eigentlich die geistlichen Lieder der Reformation so viele Strophen? War das nur für jene Zeit geeignet, die eben noch nicht postmodern war? Das Christentum hat ein besonderes Verhältnis zur Wahrheit. Es gibt Religionen, die durch andere Dinge als Lehre auf das Bewußtsein wirken. In buddhistischer Meditation versucht man, alle Gedanken beiseite zu schieben und sich ganz zu entleeren, bis man in einem Zustand des Wohlgefühls ist, in dem einem nichts mehr beunruhigt, ohne Spannungen und ohne Streit. Das ist das, wonach sich heute viele Menschen sehnen: Hört doch auf mit all dem Streit über Lehren, sagen sie, habt euch einfach lieb und entspannt euch! Andere Religionen bringen die Menschen durch Tanzen und durch Trommeln oder auch durch Drogen in Stimmung, in Trance. Ist das Christentum in diesem Bereich einfach ein bißchen ärmer? Hat man diesen Bereich des Gefühls und der Stimmung im Christentum vielleicht vernachlässigt?

Nein, das Christentum ist ganz anders als diese Religionen. Der christliche Glaube bewegt den Menschen noch viel umfassender und tiefer – aber nicht durch Sentimentalität wie „Es ist so schön, du bist mir so nah“, und nicht durch Trance und nicht durch Trommeln. Sondern: durch Wahrheit! Man kann versuchen, sich in Freude zu versetzen, indem man sich einredet „Ich freue mich“. Aber tiefer und erstrebenswerter ist eine Freude, die einen Grund hat. Deshalb heißt es in einem christlichen Lied: „Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude“.

Die christliche Lehre gibt uns Grund zur Freude, zum Trost und für alles, was zum Leben als Christ gehört. Für alle Hingabe, alle Opfer, für alle zum Glauben gehörenden Handlungen und Gefühle haben Christen Gründe. Die christliche Lehre enthält diese Gründe. Der christliche Glaube ist auf eine Lehre gegründet. Das macht das Christentum zu einer überaus rationalen Religion. Es ist kein Zufall, daß die Philosophie im Christentum zur Blüte kam. Es gab immer Christen, die sich auf höchstem Niveau darum bemüht haben, die christliche Lehre im Detail auszubuchstabieren, Gründe für ihre Wahrheit zu finden und Einwände zu prüfen.

Studieren Sie zum Beispiel alte Gesangbücher. Hunderte über Hunderte von Liedern wurden gedichtet und gesungen, welche die christliche Lehre besingen und ins Herz bringen, so daß sie dort ihre Kraft entfaltet. Und uns Grund gibt zur Freude, zum Trost, zum Weitersagen des Evangeliums, zum Kämpfen für das Gute.

Katechismen und andere Bücher über die christliche Lehre helfen uns, die christliche Lehre besser zu verstehen und im Herzen zu tragen. Sie helfen uns auch dabei, das Evangelium besser weiterzusagen. Nicht zuletzt helfen sie uns dabei, Einwände gegen die christliche Lehre und überhaupt das Denken der Nichtchristen um uns herum zu verstehen und zu bewerten.

Quelle der christlichen Lehre ist natürlich die Bibel. Sie müssen wir studieren und mit Gebet in unser Herz bringen. Gellert dichtete in einem Lied: „Dein Wort ist wahr, laß immerdar mich seine Kräfte schmecken. Laß keinen Spott, o Herr, mein Gott, mich von dem Glauben schrecken.“ In Gottes Wort, in der Lehre, liegt die Kraft.

Christlicher Wahrheitsanspruch ist daher im Zeitalter des Postmodernismus wichtiger denn je. Gerade wenn der Wert und die Wichtigkeit des Strebens nach Wahrheit vielen Menschen nicht mehr bewußt ist, müssen wir uns bemühen, uns auf Wahrheit auszurichten und beständig in der Lehre zu sein. In der Wahrheit liegt die Kraft.