Bewusste Irreführung? – Die falsche Behauptung in der Diskussion um Bibel und Homosexualität

In der Debatte um die ethische Beurteilung homosexueller Handlungen und Lebenspartnerschaften aus biblischer Sicht, wird nach wie vor eine falsche Behauptung als wichtiges Argument vorgetragen. Die Behauptung lautet: Die biblische Kritik an homosexuellen Handlungen beträfe nicht die gleichberechtigten gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, in denen die Partner verlässlich auf Lebenszeit Verantwortung füreinander übernähmen. Solche Verbindungen habe es in der Antike gar nicht gegeben und seien gar nicht denkbar gewesen. Paulus hätte mit seiner Kritik solche Lebenspartnerschaften also gar nicht im Blick haben können. Stattdessen gelte die biblische Kritik der erniedrigenden, gewalttätigen und promisken Sexualität mit Abhängigen.

Diese Behauptung ist historisch falsch.

Die Lektüre von Platons Dialog „Symposion“ (Platon, Sämtliche Werke 2, Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, in Rowohlts Klassiker, Griechische Philosophie Band 3, 1964, S.203 – 250) widerlegt diese Behauptung. Der Dialog bei diesem fiktiven Trinkgelage mit prominenten Teilnehmern – u.a. auch Sokrates – dreht sich um die Bedeutung des Eros.

Ich zitiere aus Rede des Pausanias: „Daher denn wenden sich zu dem Männlichen die von diesem Eros Angewehten, indem sie das von Natur Stärkere und mehr Vernunft in sich Habende lieben. … Denn sie lieben nicht Kinder, sondern solche, die schon anfangen Vernunft zu zeigen. Dies aber trifft nahe zusammen mit dem ersten Bartwuchs. Und die alsdann anfangen zu lieben, sind, denke ich, darauf eingerichtet, für das ganze Leben vereinigt zu sein und es in Gemeinschaft hinzubringen, nicht aber den Jüngling, nachdem sie seinem Unverstand etwas entlockt, hernach zu verlachen und von ihm zu einem anderen zu entlaufen.“ (S.214)

„Schändlich nämlich ist es, einem Schlechten und auf schlechte Art gefällig werden; schön aber, einem Guten und auf schöne Art. Und schlecht ist eben jener gemeine Liebhaber, der den Leib mehr liebt als die Seele; wie er auch nicht einmal beständig ist, da er ja keinen beständigen Gegenstand liebt. Denn mit der entfliehenden Blüte des Leibes, den er liebte, verschwindet auch er und flattert davon, viele Reden und Versprechungen zuschanden machend. Der Liebhaber eines Gemüts aber, welches gut ist, bleibt zeitlebens, denn mit dem Bleibenden hat er sich verschmolzen. Dieses also will unsere Sitte, daß man wohl und recht prüfe, und dem einen gefällig sei, den anderen aber meide.“ (S.215-216)

Diese verlässliche, ganzheitliche, lebenslange Gemeinschaft gleichgeschlechtlicher Paare war damals wohl so selten wie heute. Das Zitat aber beweist, dass sie in höchstem Maße wertgeschätzt und erstrebenswert war. Wie kann man angesichts dieses Beweises behaupten, in der Antike sei die gleichberechtigte, verlässliche, verantwortliche Lebenspartnerschaft unbekannt gewesen? Wieso sollte Paulus von solchen Gedanken nichts gewusst haben, der sich offensichtlich in der griechischen Kultur und Philosophie gut auskannte?

Platons Dialog „Symposion“ schließt mit der Rede des Athener Feldherrn Alkibiades, der am Ende zu dem Trinkgelage stößt und in einer Lobrede auf den anwesenden Sokrates über seine homoerotischen Erlebnisse mit diesem berichtet. (S.240 – 249)

Zur zeitlichen Einordnung: Sokrates lebte 469 – 399 v.Chr.; Alkibiades etwa 450 – 404 v.Chr.; Platon 428/427 – 348/347 v.Chr.. Paulus debattierte in Athen mit den Epikuräern (Apg 17,18), einer Philosophenschule, deren Begründer Epikur von 341 – 270 v. Chr. lebte, und mit den Stoikern, die um 300 v.Chr. durch den Philosophen Zenon von Kition gegründet wurden. Paulus kannte sich in der griechischen Philosophie offensichtlich aus.

Ein zweite Widerlegung der falschen Behauptung ergibt sich aus dem Bericht des Plutarch über die sogenannte „Heilige Schar“ von Theben.

Der Historiker, Philosoph und Priester Plutarch lebte von 46 bis 119 n.Chr.. Er berichtet, dass im Stadtstaat Theben der Feldherr Gorgidas eine Elitetruppe aus 150 homosexuellen Liebespaaren gründete, um Theben gegen die Spartaner zu verteidigen. Diese Elitetruppe war Teil der thebanischen Phanlanx (einer Anordnung der Soldaten in der Schlacht) und besiegte unter dem Feldherrn Pelonidas in einer Schlacht 379/378 v.Chr. das spartanische Heer. Die Militärs setzten auf die Stärke dieser Einheit wegen der unverbrüchlichen Treue der männlichen Liebespaare zueinander. Diese Elitetruppe bestand 40 Jahre, d.h. sie wurde immer wieder durch neue homosexuelle Liebespaare ergänzt. Erst in der Schlacht von Chaironeia im Jahr 338 v.Chr. wurde die Einheit bis auf 46 Mann durch die  Armee des makedonischen Königs Philipps II. aufgerieben.[1]

Gibt es einen Grund anzunehmen, dass Paulus die Dialoge Platons und die Berichte über die Heilige Schar von Theben nicht gekannt haben sollte? Warum sollten die militärischen Ereignisse um Theben in Griechenland zur Zeit des Paulus nicht bekannt gewesen sein, wenn doch Plutarch, der jüngere Zeitgenosse des Paulus darüber berichtete? Plutarch war etwa 20 Jahre alt, als Paulus in Rom starb. Auch wenn Paulus die Texte des Plutarch sicherlich nicht gelesen hat, ist der historische Stoff, über den Plutarch schreibt, doch zur Zeit des Paulus offensichtlich bekannt gewesen.

Die Behauptung, gleichberechtigte homosexuelle Lebenspartnerschaften habe es in der Antike nicht gegeben und Paulus könne sie darum bei seinen Aussagen über Homosexualität nicht im Blick gehabt haben, widerspricht den bekannten historischen Tatsachen. Man muss sie als unbegründet und falsch bezeichnen. Warum wird sie trotzdem von Theologen bis heute wiederholt, um die kritischen Aussagen der Bibel für bedeutungslos zu erklären? Nachdem die evangelikale Gemeinschaft sich an der Beurteilung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften spaltet, gebrauchen auch die evangelikalen Befürworter der Segnung solcher Partnerschaften vor allem diese falsche Behauptung. Sie sagen, dass die biblische Kritik selbstverständlich gültig bleibe. Aber sie beträfe eben nicht die heute gelebten verantwortlichen Partnerschaften. Spekulieren sie auf die Unkenntnis von Christen, die die historischen Texte nicht kennen?

Rätselhaft sind mir angesichts dieses Befundes auch Aussagen wie die des aus Württemberg stammenden, an der Berner Theologischen Fakultät lehrenden Neutestamentlers Prof. Benjamin Schliesser: „Die exegetischen Argumente zum Thema sind (weitgehend) ausgetauscht. Jedenfalls ist nicht zu erwarten, dass neue bibelwissenschaftliche Erkenntnisse der Debatte eine entscheidende Wendung geben werden.“[2] Was ist das denn für eine Bankrotterklärung? Ich dachte bisher, es gehöre zur Aufgabe der Bibelwissenschaftler, den historischen Kontext biblischer Aussagen zu erforschen und zu würdigen. Die Texte Platons und Plutarchs sind ja jedem Lesekundigen zugänglich und keinesfalls in Geheimarchiven versteckt.

Ulrich Parzany


[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Gorgidas Zugriff 5.6.21; https://de.wikipedia.org/wiki/Heilige_Schar_(Theben)  Zugriff am 5.6.21

[2] So auf S. 51 in der leicht erweiterten Fassung eines Referates vom Studientag der 15. Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Württemberg am 24. Juni 2017, die veröffentlicht wurde in: Michael U. Braunschweig, Isabelle Noth, Mathias Tanner (Hg.), Gleichgeschlechtliche Liebe und die Kirchen, Zum Umgang mit homosexuellen Partnerschaften, Theologischer Verlag Zürich 2021. Die Schweizer Herausgeber stellen fest: „Benjamin Schliesser macht in seinem Aufsatz deutlich, dass von seinem Fach keine neuen Erkenntnisse zu erwarten seien, welche der Debatte noch eine entscheidende Wendung geben könnten. Stattdessen fragt er nach den Gründen für die allzu oft anzutreffenden Verständnisblockaden und Kommunikationsbarrieren.“ (aaO S. 9)