„Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen“
Kommentar von Ulrich Parzany
Der Rat der EKD hat einen Grundlagentext mit dem Titel „Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen“ (2021) herausgegeben. Einen Text mit diesem Titel darf und muss man mit großen Erwartungen lesen. Warum? Der Grund wird in der Schrift selbst genannt: „Zum Selbstverständnis evangelischer Kirchen gehört es, dass sie der Heiligen Schrift für die Begründung kirchlicher Lehre und Urteilsbildung eine hervorgehobene Bedeutung zuerkennen. Die Schrift in der Einheit von Altem und Neuem Testament soll als „Richter, Regel und Richtschnur, nach welcher als dem einzigen Prüfstein alle Lehren erwogen und beurteilt werden“…, dienen, wie es die lutherischen Bekenntnisschriften formulieren und darin einen gemeinreformatorischen Grundsatz zum Ausdruck bringen.“ (S. 11)
Darum bin ich Mitglied und Pfarrer der Evangelischen Kirche. Also habe ich den Text mit großer Erwartung gelesen. In den letzten Jahren schienen mir die Kirchenleitungen diesem so formulierten Selbstverständnis nicht durchweg gerecht zu werden.
1. Das reformatorische Bibelverständnis wird klar dargestellt.
Erfreulich klar wird beschrieben, dass für die Reformatoren die Bibel Wort Gottes war. „Wenn die Reformatoren bzw. die Bekenntnisse der Reformationszeit von der Bibel als dem ‚Wort Gottes‘ reden oder sie als ‚Heilige Schrift‘ bezeichnen, dann in der Überzeugung, dass in und durch die Worte der Schrift Gott selbst zum Menschen spricht.“ (S. 30)
Mit konkreten Bibelzitaten wird belegt, dass die Bibel in vielfältiger Weise vom Reden Gottes berichtet. „Die Reformatoren folgen mit dieser vielschichtigen Redeweise einem Sprachgebrauch, der in den biblischen Texten selbst angelegt ist.“ (S. 31) Was folgt daraus? Einige Zitate mögen das zeigen:
„Nur in diesem komplexen Zusammenhang kann von der Bibel angemessen als Wort Gottes geredet werden. Dafür ist wahrzunehmen, wie die Schrift selbst vom Wort Gottes spricht und wie die frühchristliche Verkündigung im Horizont des Christusgeschehens die Schrift als Wort Gottes gebraucht. Beides gehört zusammen und bildet eine Einheit: Die Schrift als geschriebenes Wort Gottes und ihr Gebrauch im Zusammenhang der frühchristlichen Verkündigung und des gottesdienstlichen Lebens. Darin kommt der Charakter der Schrift als Wort Gottes zum Tragen. Die Bibel wird als Wort Gottes verstanden, weil Gott selbst in ihr zur Sprache und so zum Menschen kommt: in der Befreiungsbotschaft von seinem erlösenden Handeln in der Geschichte Israels (Erwählung, Exodus) und im Evangelium von Jesus Christus. Die biblischen Texte werden gehört und ausgelegt als Gottes Wort im Menschenwort, das das endgültige Wort Gottes in Person und Wirken Jesu Christi bezeugt, die seligmachende Kraft Gottes gegenwärtig werden lässt und zu heutigem Zeugnis ermächtigt und ermutigt.“ (S. 34)
„Dieser Grundsatz, das Christusgeschehen als hermeneutischen Schlüssel für das Verstehen der ganzen Schrift zum Zuge zu bringen, bestimmt die reformatorische Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament und die Auffassung von der Einheit der Schrift. Die Vielfalt des biblischen Zeugnisses vom Reden und Handeln Gottes wird durch das Verständnis von der im Christusgeschehen erschlossenen Einheit der Schrift nicht aufgehoben. Vielmehr wird es als Reden und Handeln des einen Gottes verstanden, der im Christusgeschehen die Erfüllung seiner Verheißungen und das eschatologische Heil der Welt heraufgeführt hat. Diese Auffassung von der Einheit der Schrift, die im Christusgeschehen ihr Zentrum hat, teilen alle Reformatoren.“ (S. 35)
„Bei Calvin führt diese auf das Christusgeschehen bezogene Hermeneutik der Schrift nicht in der Weise wie bei Luther zu einer graduellen Gewichtung einzelner biblischer Texte oder auch ganzer Schriften gemessen an ihrem Charakter als Botschaft des Evangeliums. Calvin hält hier stärker an der Gleichrangigkeit aller biblischen Bücher als Wort Gottes fest.“ (S. 35)
Zur Darstellung des reformatorischen Schriftverständnis darf man auch die Überlegungen über den Zusammenhang von Heiligem Geist und Heiliger Schrift zählen:
„Der Inspirationsgedanke bezieht das Wirken des Heiligen Geistes nicht allein auf die Entstehung der biblischen Texte, sondern auf den dialogischen Prozess zwischen Schrift und Rezipienten, in dem die biblische Botschaft bezeugt, geglaubt, erfahren und gelebt wird (1Kor 2,6 – 16). Die Inspiriertheit der Schrift zeigt und bewährt sich darin, dass sie in der Kraft des Heiligen Geistes Glauben gewirkt hat und Glauben wirkt. So ist die Bibel der grundlegende Teil dieses in der Kraft des Heiligen Geistes gewirkten kommunikativen Prozesses göttlicher Selbstmitteilung und menschlichen Glaubens. Solche Rede von Inspiration steht für die Einsicht, die Schrift als Gabe von Gott her zu empfangen, wie für das Bewusstsein der Unverfügbarkeit ihrer angemessenen Auslegung wie ihrer seligmachenden und verwandelnden Kraft. Nur im Horizont einer solchen Auslegungsgemeinschaft kann von den biblischen Texten angemessen als Heiliger Schrift bzw. Gottes Wort die Rede sein.“ (S. 40)
Ja, die Inspiration durch den Heiligen Geist bezieht sich nicht allein auf die Entstehung der biblischen Texte, aber doch auch und zwar grundlegend, wie Paulus an Timotheus schreibt: „Denn alle Schrift, von Gott eingegeben…“ (2.Tim 3,16)
Wieso taugt hier im letzten Satz die „Auslegungsgemeinschaft“ auf? „Nur im Horizont einer solchen Auslegungsgemeinschaft kann von den biblischen Texten angemessen als Heiliger Schrift bzw. Gottes Wort die Rede sein.“ Wenn damit gemeint sein sollte, dass die Auslegungsgemeinschaft die Bibel zum Wort Gottes macht, wäre der Satz natürlich völliger Unsinn. Nicht die Hörer machen die biblischen Texte zu Gottes Wort, sondern der dreieine Gott selbst.
Sehr erfreulich ist, dass die reformatorischen Positionen nicht nur unter historischen Gesichtspunkten referiert, sondern auch als heute gültig für die evangelischen Kirchen angesehen werden. Wir lesen erstaunlich klare und starke Aussagen: „Die biblischen Texte sind das erste und grundlegende Wort, auf das Kirche, Theologie und Glaubensleben immer wieder rückgebunden sind, als Texte, die den kritischen Maßstab bilden und an dem die Traditionen und Lehrbildungen der Kirche zu prüfen sind. Der Kanon der biblischen Schriften ist allen anderen Traditionen als norma normans, das heißt als kritischer Maßstab vorgeordnet, so dass diese – wenn nötig – kritisiert werden können. Die kirchlichen Lehren sind aus der Schrift gewonnene und an ihr zu bewährende norma normata; ihr Anspruch und ihre Geltung liegen darin begründet, dass sie das Evangelium von Jesus Christus als die Mitte der Schrift für alle Vollzüge der Kirche zur Geltung bringen.“ (S. 49)
Nachdem zunächst der Kanon der biblischen Schriften insgesamt als Norm gebender Maßstab genannt wird, spitzt sich die Argumentation im letzten Satz auf das Evangelium von Jesus Christus zu. Erst wurde Luther gegen Calvin ausgespielt. Dann wird in dem Grundlagentext nicht mehr die Bibel, sondern das Evangelium als Maßstabgeber genannt. Dass diese Unterscheidung nicht unproblematisch ist, werden wir bald sehen.
2. Auf ein „Überlegungsgleichgewicht“ soll es ankommen.
Für kirchenleitende Entscheidungen spielt nicht nur das Evangelium eine Rolle, sondern auch verschiedenartige Sachaspekte der jeweils zur Diskussion stehenden Probleme.
„Dass evangelischer Schriftgebrauch das Evangelium zur Geltung bringt und was dies bedeutet für den jeweiligen Urteilsbildungsprozess, in dem eine Vielfalt von verschiedenartigen Sachaspekten zu berücksichtigen und diese aufeinander zu beziehen sind, wird in dem folgenden Text mit dem Ausdruck „Überlegungsgleichgewicht“ eingeholt“. (S. 12f)
„Der evangelische Anspruch an kirchenleitende Entscheidungen ist der, dass sie dem Evangelium entsprechen, wie es die biblischen Schriften bezeugen und wie es in den Bekenntnisschriften als Richtschnur kirchlicher Lehre zum Ausdruck gebracht ist, und dass sie dabei dem gegenwärtigen Stand von wissenschaftlicher Forschung sowie den gesellschaftsöffentlichen Debatten und kulturellen Entwicklungen angemessen Rechnung tragen.“ (S. 18)
Niemand wird bestreiten, dass in den Überlegungsprozessen, die zu kirchenleitenden Entscheidungen führen sollen, wissenschaftliche Forschungsergebnisse, gesellschaftliche Debatten und kulturelle Entwicklungen einbezogen werden müssen. Die Anwendung biblischer Wegweisungen geschieht immer in Auseinandersetzung mit der jeweiligen persönlichen und gesellschaftlichen Situation der Christen und der Kirchen.
„Der Ausdruck „Überlegungsgleichgewicht“ wird hier gebraucht, um zum einen die Vielfalt der zu berücksichtigenden Aspekte, zum andern die besondere Bedeutung, die innerhalb dieser Aspekte und ihres Zusammenspiels dem Evangelium zukommt, deutlich zu machen. So verstanden, zielt der Ausdruck darauf, dass die verschiedenen Aspekte in einem Prozess der Urteilsbildung nicht nur gegeneinander abgewogen werden, sondern in einer gewichtenden, hierarchisierenden Ordnung zur Geltung gebracht werden, indem dem Evangelium die begründende, orientierende, prägende Bedeutung im und für den Zusammenhang aller Aspekte zukommt und auf diese Weise der Vorrang des Evangeliums im komplexen Zusammenspiel aller zu berücksichtigenden Aspekte zur Geltung kommt.“ (S. 60)
Der Grundlagentext betont also durchaus die vorrangige Bedeutung biblischer Texte im Prozess der Urteilsbildung. Was das wirklich bedeutet, bleibt allerdings unklar. Jedenfalls halten es die Verfasser für nötig, ausdrücklich zu betonen: „Christliche Ethik ist bibelorientiert, aber nicht biblizistisch.“ (S. 105)
Wo liegt der Unterschied? Die Abgrenzung zum Biblizismus ist inzwischen auch bei evangelikalen Theologen beliebt. Man hätte gern eine trennscharfe Definition. Wo kippt die Auslegung und Anwendung der Bibel von der positiven Bedeutung (bibelorientiert) zur negativen (biblizistisch). Biblizistisch soll wohl auf übertrieben starke Berücksichtigung biblischer Aussagen hinweisen. Ist z.B. Luther biblizistisch, wenn er fordert, dass die Heilige Schrift in der Auseinandersetzung mit theologischen und philosophischen Meinungen auch der Kirchenväter Königin sein soll? Luther geht offensichtlich nicht nur von einer „hervorgehobenen Bedeutung“, sondern von einer unbedingten Vorrangigkeit der Bibel aus. der Heiligen Schrift.
Wir lesen in diesem Grundsatztext: „Zum Selbstverständnis evangelischer Kirchen gehört es, dass sie der Heiligen Schrift für die Begründung kirchlicher Lehre und Urteilsbildung eine hervorgehobene Bedeutung zuerkennen.“ Was aber ist „eine hervorgehobene Bedeutung“? Ist die Bibel wirklich die maßgebende Norm, weil sie von Gott offenbart ist? Oder ist sie eine zwar zu hörende, aber nicht letztlich entscheidende Stimme im Prozess der Herstellung des „Überlegungsgleichgewichtes“?
3. Was ist das Evangelium?
Wenn es um den entscheidenden Maßstab geht, wird in dem Grundlagentext, wie schon erwähnt, zwischen der Bibel und dem Evangelium unterschieden: „Der evangelische Anspruch an kirchenleitende Entscheidungen ist der, dass sie dem Evangelium entsprechen, wie es die biblischen Schriften bezeugen und wie es in den Bekenntnisschriften als Richtschnur kirchlicher Lehre zum Ausdruck gebracht ist, und dass sie dabei dem gegenwärtigen Stand von wissenschaftlicher Forschung sowie den gesellschaftsöffentlichen Debatten und kulturellen Entwicklungen angemessen Rechnung tragen.“ (S. 18; Hervorhebung von Parzany)
In diesem Textabschnitt wird das Evangelium durch den Zusatz „wie es die biblischen Schriften bezeugen und wie es in den Bekenntnisschriften als Richtschnur kirchlicher Lehre zum Ausdruck gebracht ist“ präzisiert. Das ist hilfreich. Denn wenn die Entscheidungen dem Evangelium entsprechen sollen, muss man sich darüber einig sein, was das Evangelium ist. An diesem Punkt leidet der Grundlagentext allerdings an einer Unstimmigkeit. Wer nach der gerade zitierten Präzision hofft, dass der Bibel tatsächlich zu entnehmen sei, was das Evangelium ist, der wird im nächsten Zitat belehrt, dass das so einfach doch nicht möglich sei:
„Das Evangelium ist ihm wiederum nicht in bloßen Satzwahrheiten gegeben, sondern erschließt sich im Glauben an Jesus Christus und wird im Glauben zur existenzbestimmenden Wahrheit für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft der Glaubenden. Glaubende Menschen drücken ihre Frage nach dem, was dem Evangelium gemäß ist – und was Luther in dem sieht, ‚was Christum treibet‘, und die Reformatoren insgesamt als Rechtfertigung des Sünders aus reiner Gnade verstehen –, auch noch in anderen Begriffen aus: als Suche nach der wahrhaft christlichen Existenz, nach dem Weg der Nachfolge Jesu, nach dem Leben als Kinder Gottes oder als Weg der radikalen Liebe. Eine Vergewisserung in demjenigen, was dem Evangelium gemäß ist, in sozusagen rein formaler Hinsicht – durch unmittelbaren Bezug auf einzelne biblische Textstellen – ist unter evangelischen Bedingungen problematisch. So richtet Luther sich entschieden gegen jene, die ‚aus einem Text ein Wankelwort herauszwacken, das ihrem Dünkel gefällt, und dazu fahren lassen, was daneben steht‘ (WA 23,225,4 f.). Man kann auch unchristliche Verhaltensweisen mit Bibelstellen zu legitimieren suchen. Beispiele aus der Kirchengeschichte gibt es genug: Sklaverei, Kolonialismus, strukturelle Benachteiligung von Frauen oder Gewalt gegen Kinder.“ (S. 22f)
Also lässt sich gar nicht sagen, was das Evangelium ist. Es ist nicht „in bloßen Satzwahrheiten gegeben“ und kann auch nicht „durch unmittelbaren Bezug auf einzelne biblische Textstellen“ gefunden werden. Das Evangelium werde erst „im Glauben zur existenzbestimmenden Wahrheit für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft der Glaubenden“. Luther und die Reformatoren hatten dafür ihre Formulierungen, die heutigen Glaubenden andere. Sie redeten eher von der „Suche nach der wahrhaft christlichen Existenz, nach dem Weg der Nachfolge Jesu, nach dem Leben als Kinder Gottes oder als Weg der radikalen Liebe“. Das Evangelium ist also nichts Eindeutiges und schon gar nicht mit Bibelworten auszudrücken: „Eine Vergewisserung in demjenigen, was dem Evangelium gemäß ist, in sozusagen rein formaler Hinsicht – durch unmittelbaren Bezug auf einzelne biblische Textstellen – ist unter evangelischen Bedingungen problematisch“.
Da ist plötzlich alles, was zuvor in klarer reformatorischer Theologie aufstrahlte, im pluralistisch protestantischen Nebel verschwunden und in subjektiver Beliebigkeit aufgelöst. Wie kann das sein?
Texte, die von kirchlichen Gremien verabschiedet werden, enthalten in der Regel „Konferenz-Theologie“. Das heißt, der Inhalt wurde wie Tarifverträge durch Geben und Nehmen zwischen den Teilnehmern ausgehandelt. Man könnte sich also die Mitglieder- und Gästeliste der „Kammer für Theologie“ der EKD anschauen und mutmaßen, wer was wo beigesteuert hat. Dieses Ratespiel kann nicht sinnvoll sein. Eine Passage des Grundlagentextes zeigt allerdings, warum es zwangsläufig zu der Unklarheit über das Evangelium kommen muss.
4. Die historisch-kritische Bibelauslegung nichts Fremdes?
Zunächst lesen wir: „Die historisch-kritische Erforschung der Bibel in der Moderne hat für das traditionelle Glaubensbewusstsein wie für Theologie und Kirche erst einmal erhebliche Erschütterungen mit sich gebracht.“ (S. 43) Was wurde erschüttert? „Für eine Schriftauslegung, welche die gesellschaftlichen Machtverhältnisse oder das umfassende Verständnis der Natur und der Menschheitsgeschichte aus den biblischen Texten autoritativ ableiten wollte, bedeutete die Exegese im Geiste der modernen Wissenschaft eine radikale Krise.“ (S. 43)
Dann aber wird die neue Methode verharmlosend nicht als Bruch, sondern als Fortsetzung der Bibelauslegung nach reformatorischem Schriftverständnis dargestellt: „Von Anfang an wohnten dem reformatorischen Schriftumgang Tendenzen inne, die in Richtung historisch-kritischer Exegese führten. Insofern ist die historisch-kritische Methode nichts Fremdes, dem sich die Theologie notgedrungen beugen musste. Sie setzt vielmehr eine Grundintention reformatorischen Schriftverständnisses um, indem sie den Literalsinn der Schrift nach allen Regeln der Kunst freilegt und sich so zur Anwältin des historischen Textsinns und der Vielfalt des biblischen Zeugnisses macht.“ (S. 44)
Natürlich ging es mit dem Beginn der historisch-kritischen Bibelauslegung im 18. Jahrhundert um einen weltanschaulichen Bruch. Offenbarung Gottes und Wunder waren für die aufgeklärte Vernunft nicht mehr zumutbar. Bis heute wird in der nach dieser Methode betriebenen Bibelwissenschaft bestritten, dass Jesus sein Sterben und Auferstehen und die Zerstörung des Tempels in Jerusalem tatsächlich vorausgesagt habe. Solche Texte in den Evangelien seien nachträgliche Gemeindebildung. Bestritten wird, dass Jesus tatsächlich von der Jungfrau Maria geboren wurde, dass der Kreuzestod Jesu stellvertretendes Sühneleiden, das Grab Jesu tatsächlich leer gewesen sei, die Begegnungen mit dem auferstandenen Jesus und seine Himmelfahrt tatsächliche Ereignisse gewesen seien. Die Ich-bin-Worte seien Produkte johanneischer Theologie und nicht wirklich von Jesus so gesprochen worden.
Und weil die nach der historisch-kritischen Methode Forschenden sich über die Bewertung der biblischen Texte nicht einig werden, wird auch sehr unterschiedlich definiert, was unter dem „Evangelium“ zu verstehen ist. Das Ergebnis liest sich wie vorher schon zitiert: „Eine Vergewisserung in demjenigen, was dem Evangelium gemäß ist, in sozusagen rein formaler Hinsicht – durch unmittelbaren Bezug auf einzelne biblische Textstellen – ist unter evangelischen Bedingungen problematisch“.
Was ist der Ausweg aus dem Dilemma? Den hat schon der Theologe Schleiermacher in seinen „Reden über die Religion – an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ (1799) gewiesen. Bei ihm blieb das religiöse Gefühl die letzte Zuflucht. Der aktuelle Grundlagentext spricht vom Gebrauch religiöser Texte in der Auslegungsgemeinschaft der Kirche:
„Zugleich gilt jedoch auch: Theologische und kirchliche Schriftauslegung kann sich nicht darin erschöpfen, die Aussagen der Schrift durch beharrliche Historisierung und kulturwissenschaftliche Einbettung durchgehend zu relativieren. Historische Forschung ist ein notwendiger und hilfreicher Zugang zur Schrift, der heute eine unveräußerliche Basis des Textverstehens bildet. In diesem Zugang geht der Vorgang des Verstehens der Texte jedoch nicht auf. Dies ergibt sich schon aus dem Charakter der Texte selbst und ebenso aus ihrem Gebrauch in der Auslegungsgemeinschaft der Kirche, der für das, was sie als religiöse Texte ‚sind‘, wesentlich ist.“ (S. 44)
Was ist damit gemeint? Was heißt Charakter als religiöse Texte? Wieso ergibt sich das „aus ihrem Gebrauch in der Auslegungsgemeinschaft der Kirche“?
Wir sollten uns die kirchliche Lage nicht schönreden. Ja, die historisch-kritische Bibelwissenschaft könnte zur genaueren Erfassung der Bedeutung biblischer Texte helfen, wenn sie sich nicht weltanschaulich im Sinne aufklärerischer Philosophie bevormunden ließe und wenn „kritisch“ in der Bedeutung „unterscheidend“ und nicht sachkritisch nach weltanschaulichen Vorgaben bedeuten würde. Wenn die Bibelwissenschaft von der Offenbarung Gottes ausgehend zu einer theologisch-historischen Bibelauslegung wird, ist die Kontinuität zum reformatorischen Schriftverständnis und zum eindeutigen reformatorischen Verständnis des Evangeliums gewahrt.
In den Bekenntnisschriften wird die Klarheit des Evangeliums auf Grund der Glaubwürdigkeit der Evangelien und der Gültigkeit des biblischen Kanons vorausgesetzt. Davon kann nach der historisch-kritischen Bibelauslegung nicht mehr ausgegangen werden. Darum ist der folgende Satz leider ein Scheck, der nicht mehr gedeckt ist. „Die reformatorischen Bekenntnisschriften haben ihre besondere Bedeutung für die evangelischen Kirchen deshalb, weil sie Ausdruck des Evangeliums sind und Lehre, Verkündigung und Sozialgestalt der Kirche am Evangelium ausrichten.“ (S. 68)
Und wieder muss man die Frage stellen: Was ist das Evangelium von Christus, wenn die historische Kritik den historischen Jesus verschwinden lässt? Weil das Evangelium, wie es die Reformation bekannt hat, durch die historisch-kritische Bibelexegese demontiert wurde, hat die Kirche ihre Orientierung verloren. Die folgende Behauptung ist deshalb irreführend: „Mit seiner Orientierung am Evangelium von Christus hat reformatorisches Schriftverständnis in der Gegenwart eine hermeneutisch-theologische Regel für die Auslegung der Schrift im Sinne einer konstruktiven Verbindung historisch-kritischer Exegese und theologisch-gegenwartsorientierter Schriftauslegung.“ (S. 45)
Wenn überhaupt nicht klar ist, was das Evangelium ist, wie soll es eine lebendige und orientierende Kraft entfalten? Das erhoffen sich jedoch die Verfasser des Grundlagentextes: „Die Qualität und Überzeugungskraft kirchenleitender Entscheidungen und Texte hängt auch davon ab, wie sehr die lebendige und orientierende Kraft des Evangeliums darin zum Ausdruck kommt, wie gut die Plausibilisierung gelingt, vorrangig im Hinblick auf das gemeinsame Verständnis des Evangeliums als auch nachrangig hinsichtlich wissenschaftlicher, philosophischer und politischer Debatten.“ (S. 55)
5. Bitte nicht vergessen!
An einige wichtige Aussagen dieses Grundlagentextes sollten wir uns immer wieder erinnern. Die folgenden Zitate sprechen für sich.
Kirchenleitungen können irren.
„Kirchenleitendes Handeln kann sich auch irren. Die Gemeinschaft der Glaubenden lebt davon, dass sich in der Geschichte auch immer einzelne Christinnen und Christen mit Bezug auf das an Gottes Wort gebundene Gewissen der Kirchenleitung widersetzt haben und so das Evangelium für ihre Zeit mutig und entschieden bezeugt haben.“ (S. 73)
Kirchenleitung „umfasst Gemeindeleitung (Kirchenvorstand), Bezirkssynoden, landeskirchliche Synoden, die EKD, die konfessionellen Weltbünde, die Kirchengemeinschaft wie die GEKE und alle anderen kirchenleitenden Ebenen, auf denen gemeinschaftlich organisierte Prozesse kirchenleitenden Handeln stattfinden.“ (S. 16)
„Die Anerkennung der Heiligen Schrift als Norm ist ein Akt der Selbstrelativierung aller Kirchenleitung und aller institutioneller Autorität. Es ist das Evangelium, dessen geistgewirkter Selbstdurchsetzung Kirchenleitung und das kirchliche Amt dienen wollen. Indem sich die Kirche auf die Bibel beruft, macht sie deutlich, dass sie nicht über die Wahrheit verfügt, sondern auf die Selbstbezeugung der Wahrheit und ihre immer neue Erkenntnis angewiesen ist und bleibt. Sie vertraut auf das Ereignis, im gemeinsamen Hören zu verbindender Wahrheitserkenntnis zu kommen.“ (S. 41)
Wichtig ist der Hinweis auf das Recht der Gemeindeglieder und die Bedeutung der weltweiten Kirche. „Das kirchenleitende Handeln soll von allen getauften Mitgliedern der evangelischen Kirche auf seine Schriftgemäßheit geprüft werden können, denn ein jeder Christenmensch hat das Recht und die Pflicht, die kirchliche Lehre am Evangelium zu prüfen. Kirchenleitendes Handeln muss sich nach evangelischem Verständnis in der Rezeption durch die Gliedkirchen und Gemeinden sowie auch auf der Ebene der weltweiten Kirche bewähren. Dabei vertrauen die Kirchen darauf, dass der Prozess der Rezeption in den Gemeinden vom Heiligen Geist getragen ist, der sie in die Wahrheit führt.“ (S. 15)
Bibellesen ist Voraussetzung.
„Die Schrift kann nur dann auf diese vielfältige Weise wirken, wenn sie gelesen, gehört und verkündigt wird, wenn Christinnen und Christen mit biblischen Texten leben. Das Leben mit der Schrift und die Schriftauslegung ist Aufgabe aller Christinnen und Christen. Schriftauslegung im kirchenleitenden Interesse ist in diesen gemeinschaftlichen Bibelauslegungsprozess eingebunden und gibt ihm zugleich wegweisende Impulse.“ (S. 52)
Schlussbemerkung
Das Grundsatzpapier wird mit drei „Etüden“ (praktisch-theologische Fingerübungen?) abgeschlossen. Die dargelegten Grundsätze werden auf drei Konfliktfeldern angewandt: Teilnahme von getauften Kindern am Abendmahl, Frauenordination und Umweltethik.
Leider wird die Kontroverse um praktizierte Homosexualität und Segnung sowie Trauung gleichgeschlechtlicher Paare nicht behandelt, obwohl sie weltweit die Kirchen spaltet. In diesem Konfliktfeld haben in Deutschland die Kirchenleitungen aller zwanzig evangelischen Landeskirchen und der Rat der EKD in den letzten Jahren einschneidende Entscheidungen getroffen und ihre biblisch-theologischen Begründungen erschreckend kurzfristig revidiert.