Theozentrische, christusfokussierte, schriftbezogene Begründungen

Prof. Dr. Dr. Matthias Becker, geboren 1982, ist seit 2020 Professor für Neutestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg. Er hat zu Beginn dieses Jahres ein erstaunliches Buch veröffentlicht: Ehe, Familie und Agamie. Die Begründung von Lebensformen angesichts gesellschaftlicher Pluralität im Neuen Testament und heute, Tübingen: Mohr Siebeck, 2024, 239 Seiten. Das selten gebrauchte Fremdwort Agamie heißt übrigens Ehelosigkeit.

Die drei Teile des Buches sind überschrieben: I. Lebensformen im Kontext: Vielfalt, Sexualität und die frühen Christen, II. Ehe, Familie und Agamie: Begründungen von Paulus bis zum Seher Johannes, III. Hermeneutische Impulse: Theologie, Kirche und Lebensformen heute

Ich empfehle das Studium dieses theologischen Fachbuches sehr und verweise auf die Rezension durch den Neutestamentler der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg, Prof. Dr. Detlef Häußer: https://rezensionen.afet.de/?p=2171,

Zwei Hinweise erlaube ich mir.

Becker, der auch promovierter Altphilologe ist, zieht durch seine Analysen griechischer und lateinischer Texte die in kirchlichen und auch postevangelikalen Kreisen immer noch weit verbreitete Behauptung in Zweifel, gleichgeschlechtliche Beziehungen auf Augenhöhe und als Verantwortungsgemeinschaft habe es in der Antike nicht gegeben und darum seien die kritischen Aussagen der Bibel zur homosexuellen Praxis heute nicht anwendbar. Dabei beleuchtet er im ersten Teil des Buches auch Quellen, die im bisherigen Diskurs zum Thema unbeachtet geblieben sind. Unter Verweis auf einschlägige antike Quellen und aktuelle Forschungsliteratur belegt er auch: „Vor- und nachchristliche griechische und römische Texte aus der Philosophie, Medizin, Astrologie und Literatur kennen die Vorstellung natur- und veranlagungsbedingter Homosexualität durchaus.“ (S. 30)

Becker zeigt auf, dass die frühe Christenheit sich angesichts der vielen verschiedenen Lebensformen auf drei Kernbegründungen für ihr alternatives (wenngleich nicht immer gegenkulturelles) Verhalten stützt: auf Gott, auf Christus und die Schrift. Er schreibt:

„Doch sollte aus dieser Diversifikation gefolgert werden, dass Theologie und Kirche alles, was in unserer Gesellschaft gegeben ist und sich auch künftig wandeln wird, zum Anlass nehmen müssen, um sich in einer Form zu modernisieren, die von christlichen Begründungspropria absieht? Das Neue Testament tritt angesichts der Pluralität von Lebensformen und der sexuellen Vielfalt seiner Entstehungszeit bei seinen christusgläubigen Rezipienten jedenfalls nur für die monogame Ehe zwischen einem Mann und einer Frau ein, für daraus entstehende Familien sowie für die auf Sexualität verzichtende Ehelosigkeit. Der Grund dafür liegt gerade nicht in einem begründungsarmen Biblizismus, der paragraphenartig aus den heiligen Schriften Israels zitiert. Vielmehr geht es im Kern letztlich um Gotteslehre und Christologie. Weshalb sollte sich in der aktuellen Situation der Pluralität an diesem Grundsatz etwas geändert haben? Warum sollten Christen heute andere Antworten finden, und zwar solche, die einen deutlich anderen Akzent setzen als das, was das Neue Testament durch seine ehe- und familienethischen Begründungsrekurse auf Gott, Christus und die Schrift vorgibt?“ (S.174f; Hervorhebung durch UP)

Prof. Detlef Häußer schließt seine Rezension mit den Sätzen:
„Die Lektüre von Beckers Studie ist äußerst lohnend, weil diese ein fundiertes Bild der antiken Gesellschaft zeichnet und damit das Potenzial hat, die gegenwärtigen sexualethischen Debatten auf eine solide Basis hinsichtlich des historischen Umfelds des Neuen Testaments zu stellen. Zugleich arbeitet Becker durch die Exegese der einschlägigen neutestamentlichen Stellen hermeneutisch reflektiert deren Beitrag für heutige Diskurse heraus. Die Begründung sexualethischer Positionen in der Gegenwart kann von der Rezeption von Beckers Studie und der kritischen Reflexion der von ihm herausgearbeiteten neutestamentlichen Begründungsrekurse enorm profitieren und so an Profil gewinnen.“

Ulrich Parzany