Christliche Seelsorge und Homosexualität in der Perspektive von Schöpfung, Erlösung und Heiligung

von Dr. Rolf Sons

Pfarrer Dr. Rolf Sons hat auf dem Kongress der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge (APS) am 3. Mai 2022 in Würzburg einen Vortrag zu diesem Thema gehalten. Dr. Rolf Sons ist Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Flein bei Heilbronn und Mitglied in der Fortsetzungsgruppe unseres Netzwerks.

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In den vergangenen Jahren ging es in dem Streit um die Bewertung der Homosexualität innerhalb der Kirche vor allem um das Abstecken von Positionen. Gegner wie Befürworter haben ihre Argumente ins Feld gebracht. Die Folge war nicht selten Verletzungen auf beiden Seiten. Die seelsorgerliche Dimension wurde in diesem Schlagabtausch nicht immer mitbedacht. So sehr es in der ganzen Auseinandersetzung  um die theologische Wahrheit geht, so muss die seelsorgerliche Dimension  einbezogen werden. Denn es geht um Menschen. Seelsorge aber ist – so sagte es mein Lehrer Manfred Seitz – ein Beistehen in den Grundsituationen des Lebens „mit dem Ziel des Heilwerdens durch das helfende Gespräch des Glaubens“.[1] Theologie und seelsorgerliche Hilfe gehören daher untrennbar zusammen. Beides versuche ich im Folgenden zu berücksichtigen:

Zur Vorbereitung hatte ich das autobiographische Buch von David Bennett gelesen. Dieses spannende Buch gibt erstaunliche Einblicke in das empfindsame Herz eines homosexuell orientierten jungen Mannes. Der aus Sydney stammende Bennett outet sich als 14jähriger bezüglich seiner Homosexualität. Die Tatsache, dass er so empfindet, lässt sich weder psychologisch, entwicklungsbiologisch, noch sozial oder auf andere Weise erklären. So ist es eben. Punkt. Obwohl er von seinen Eltern mitsamt seiner Homosexualität angenommen und geliebt ist, tut er sich schwer. In seiner Sehnsucht nach Liebe lässt er sich auf verschiedene Männerfreundschaften ein. Er wird zum Aktivisten in der australischen Schwulenszene. Er kämpft mit sich selbst und vor allem kämpft er mit dem Christentum. Die Bibel, von der er sich diskriminiert fühlt, beginnt er zu hassen. Auf seiner langen Reise zu Christus und zu einem Leben mit ihm, das letztlich in dem Opfer sexueller Enthaltsamkeit mündet, gibt er Einblicke in seine Kämpfe und sein Leiden. Man kann dieses Buch nicht lesen, ohne sich selbst in seiner Haltung zu hinterfragen. Es zeigt Irrwege und Fehlverhalten von Christen gegenüber homosexuellen Brüdern und Schwestern auf. Es zeigt aber auch, wie hartnäckig die Suche nach der Wahrheit vor Gott sein kann und was diese Wahrheit verlangt. Dieses Buch berührt, weil es die inneren Auseinandersetzungen eines homosexuellen Christen beschreibt. Gleichzeitig fordert sein Buch heraus. Denn es hilft uns nicht nur in der Wahrnehmung homosexueller Liebe, sondern darüber hinaus zu einer neuen Bewertung von Sexualität überhaupt. Ob homo- oder heterosexuell: wir müssen unseren Blick weiten. Im Lichte der geoffenbarten Liebe Gottes geht es darum, der Sexualität insgesamt den Ort zuzuweisen, der ihr im biblischen Glauben zukommt und so ihre segensvolle Funktion neu zu entdecken:

1. Die Ehe von Mann und Frau

Es ist der sechste Schöpfungstag. Nachdem Gott Licht, Himmel und Festland, Bäume, Gestirne, Tiere des Landes und des Meeres gemacht hatte, erschafft er den Menschen.  Endlich der Mensch. Nachdem alles bereit ist, darf er kommen. Nachdem er ihm ein Nest, ein Paradies bereitet hat, an dem es an nichts fehlt, darf er einziehen. Das Lebenshaus ist fertig – der Mensch soll es bewohnen. „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde. Zum Bilde Gottes schuf er ihn. Nach dem Bilde Gottes schuf er ihn als Mann und Frau schuf er sie.“ 1Mose 1,27

Gott hat den Menschen als ein Gegenüber geschaffen. Als jemandem, in dem er sich spiegelt, als ein Wesen, das auf ihn hinweist. Dem entspricht, dass er den Menschen nicht als ein einzelnes Exemplar erschaffen hat, sondern sogleich im Doppelpack.  Gott ist in sich beziehungsreich als Vater, Sohn und Heiliger Geist. In sich vereint er Unterschiede, und doch ist er eins. So sind es auch Mann und Frau. Unterschiedlich und doch eins. Im Hebräischen ist dieser Unterschied nur durch einen Buchstaben markiert. Der Mann heißt „ish“ und die Frau „isha“. Dieselbe sprachliche Wurzel liegt zugrunde. Und doch unterscheiden sich die beiden. Sie sind ähnlich und doch komplett anders. Mann und Frau sind beides Ebenbild Gottes, gleichwertig, schön und einmalig gemacht und doch ist jeder von ihnen ganz anders. Mann und Frau in ihrer Unterschiedlichkeit repräsentieren gemeinsam Gott, den Schöpfer.

Im zweiten Schöpfungsbericht findet sich das Miteinander von Mann und Frau bestätigt. Da heißt es: „Ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei.“

Gott wird erneut initiativ. Er ist das handelnde Subjekt. Er stellt dem Mann eine Hilfe zur Seite (hebr: „ezer c´negdo“). Die Frau ist das dem Mann Korrespondierende (King James Bibel „corresponding“). Betont wird, dass diese Hilfe dem Manne entspricht. Es geht also nicht nur um irgendeine, jede Art von Hilfe. Es ist vielmehr die den Mann ergänzende und ihm entsprechende Hilfe. Wie aber findet der Mann nun seine Hilfe? Gn 2,22: „Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm und brachte sie zu ihm.“

Nun lässt sich an dieser Stelle sprachlich Interessantes feststellen. Anders als in Gn 1 wird nicht vom „Erschaffen“ Gottes geredet, sondern vom „Bauen“. Das Baumaterial aber ist die Rippe (hebr. Tsela). Dieses Wort findet sich nur an ganz wenigen, aber aufschlussreichen Stellen im Alten Testament. Einmal bezeichnet tsela die längere Seite der Bundeslade (2. Mose 25) oder auch die Seitenkammer des Tempels (1. Könige 6,5). Was Luther mit „Rippe“ übersetzt, meint eigentlich ein „sakral – architektonisches Bauelement“. Eigentlich müsste man so übersetzen: „Und Jahwe baute den Tragbalken des Heiligtums, den er von dem Menschen genommen hatte, zur Frau, er brachte sie zum Menschen.“ Damit wird deutlich: Hier geht es um ein Heiligtum. Dieses Heiligtum zeichnet den Menschen als Ganzes aus. Und indem Gott die Frau zum Menschen, von dem sie genommen ist, zurückbringt, wird deutlich, sie ist das tragende Element des Heiligtums. In der Konsequenz könnte man sagen: Die Ehe von Mann und Frau ist Gottes Heiligtum. Es ist zu kurz gedacht, immer wieder zu behaupten, die Ehe sei „ein weltlich Ding“. Man beruft sich dabei zu Unrecht auf Luther. Für ihn ist die Ehe ganz und gar ein heiliger Stand. Die Ehe ist ein Stand in Gottes heiliges Wort gefasst. Dieses Wort gibt ihr Würde, Glanz und ihre Einmaligkeit. Aber sie ist von Anfang nicht einfach „säkular“ zu verstehen. Wer die Ehe verstehen will, muss sie von Gottes Schöpfertum her verstehen.

Wer sich im Zusammenhang der Ehe auf Gottes Schöpfertum bzw. auf Gottes Schöpfungsordnung beruft, muss sich heutzutage den Vorwurf gefallen lassen, mit überholten Kategorien zu argumentieren. Die Tatsache, dass auch die Deutschen Christen mit Berufung auf die Schöpfungsordnung das Nazi-Regime verteidigten, hat die Rede von Gottes Ordnungen in Misskredit gebracht. Immer wieder wird dies als Totschlagargument ins Feld geführt. Übersehen wird allerdings, dass Jesus selbst sich in Ehefragen auf die Schöpfung, also auf Gottes ursprünglichen Willen (Mt 19), berufen hat. Übersehen wird weiter, dass Luther dort, wo er im Blick auf die Ehe als einem „göttlichen Stand und Ordnung“ spricht, diese nicht als ein starres Korsett betrachtet hat, sondern als einen Raum des Schutzes und der Gestaltung in Glauben und Liebe. Eben an diesen Stand hat Gott seine Verheißung geknüpft und so diesem Stand seine einzigartige Würde gegeben. Die Herrlichkeit dieses von Gott verfügten Standes könne daher nur im Glauben wahrgenommen werden. So Oswald Bayer.[2] Dieser sieht in der Ehe mehr als nur eine kulturelle Errungenschaft oder Sozialform menschlichen Zusammenlebens. Er sieht in ihr Gottes Gabe, Geschenk und Ordnung für Mann und Frau.

2. Sexualität als Bundeszeichen

Sexualität ist eine Gabe Gottes. Sie ist nichts Schmutziges oder Verwerfliches. Die christliche Religion ist eine sehr leibfreundliche Religion. Und doch hat die Sexualität innerhalb der Bibel eine besondere Stellung und Funktion. Sie dient als Bundeszeichen. Das hebräische Wort „dabak“, das Luther mit „anhangen“ übersetzt hat, beschreibt, das unzertrennliche Verbunden-Sein von Mann und Frau. Darin aber spiegelt es eine sehr viel größere Verbundenheit wieder, nämlich die Bundestreue Gottes seinem Volk gegenüber. Sexualität besitzt daher eine Verweisfunktion. Sie verweist auf die unverbrüchliche Treuebeziehung Gottes zu seinem Volk.

Sex ist daher nicht nur das Ausleben des Triebes. Sex besteht nicht nur im Lustgewinn oder Mittel der Selbstentfaltung. Schon gar nicht ist Sex eine reine Privatsache. Vielmehr bedeutet der Geschlechtsverkehr in der Bibel die Vereinigung zweier Menschen, die so tief geht, dass die beiden praktisch eine Person werden.  Im Vollzug der sexuellen Gemeinschaft findet der Bund von Mann und Frau seinen tiefsten Ausdruck.  

Auf den ersten Blick scheint vom biblischen Wortlaut her nur von der körperlichen, sexuellen Vereinigung die Rede zu sein. Das bedeuten die Worte definitiv auch. Sie bedeuten aber noch mehr. „Fleisch“ meint, dass Mann und Frau nicht nur körperlich, sondern auch sozial, wirtschaftlich und juristisch miteinander verschmelzen. Die Ehe ist nichts anderes als eine ganzheitliche Lebensgemeinschaft zweier Unterschiedlicher. Oder wie Hanna Gerl-Falkowitz es sagt: „Alles, was lebendig ist, was der Entwicklung und der reizvollen Antwort auf Neues fähig ist, besteht nicht aus symmetrischen Kräften, die einander die Waage halten. Es setzt sich vielmehr zusammen aus ungleichen Energien mit unterschiedlichem Antrieb und getrennten Aufgaben.“[3] Im Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Energien kann tiefe Gemeinschaft entstehen. Jedoch nicht die Gemeinschaft von Gleichen, sondern von Unterschiedlichen. Gerade das macht das Wesen von Gemeinschaft aus, die Pluralität, die Einheit von Unterschieden und nicht die Konformität und das Einerlei. Eine Kultur, die diese schöpfungsgemäßen Unterschiede, die diese Polarität aufhebt, wird sich am Ende selbst zerstören.

Sexualität ist der tiefste Ausdruck dieser Verbundenheit Verschiedener. Timothy Keller sagt es so: „Vereinige dich nur dann körperlich mit einer Person, wenn du bereit bist, dich emotional, persönlich, sozial, ökonomisch und legal mit ihr zu vereinigen.“[4]

Damit ist auch klar, wo die Sexualität im Sinne der Vereinigung von Mann und Frau ihren Platz hat, nämlich in der Ehe. Dieser unserer modernen Welt fremder und unpopuläre Gedanke ist tief im biblischen Schrifttum verankert. Das AT verurteilt grundsätzlich jeden Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau, der nicht nur die Ehe geschützt ist. Während das Wort „Ehebruch“ den außerehelichen Geschlechtsverkehr bezeichnet, bezieht sich der Begriff „Unzucht“ auf alle übrigen Fälle von Geschlechtsverkehr (3Mo 19,29;21,9). Volker Gäckle ist daher beizupflichten, wenn er sagt: „Ehebruch meint den außerehelichen Geschlechtsverkehr von Verheirateten und auch den Geschlechtsverkehr von verlobten Menschen. Unzucht dagegen bezeichnet den Geschlechtsverkehrt von Menschen, die weder verlobt noch verheiratet waren.“

Hören wir noch einmal auf Timothy Keller: „Die Bibel rät nicht deswegen zur sexuellen Abstinenz vor der Ehe, weil sie eine so niedrige Meinung vom Sex hat, sondern weil sei eine so hohe hat. Die biblische Lehre bedeutet, dass außerehelicher Sex nicht nur moralisch falsch ist, sondern auch persönlich schädlich. Wenn Gott die Sexualität als Mittel zum Schließen und Erneuern eines Bundesbeziehung gedacht hat, dann haben wir sie uns als ein emotionales Mittel der Hingabe vorzustellen.“[5]

Sex verbindet eben nicht nur körperlich, sondern in der Tiefe in der Person. Paulus greift diesen Gedanken auf, wenn er die Korinther darüber aufklärt, dass Sex mit einer Prostituierten nicht nur den Körper, sondern immer die ganze Person betrifft. Weil zwei Menschen in ihrer ganzen Personalität miteinander verbunden sind, deshalb braucht die Sexualität die Ehe als Rahmen.

In Epheser 5 verbindet Paulus die alttestamentlich vorgegebene Abfolge vom Verlassen, Anhangen und Eins-Werden der Eheleute mit Aussagen über die christliche Gemeinde. Was hier vom ersten Adam gesagt ist, nämlich dass er seine Frau gewinnt, ist Modell für den Weg von Jesus. Das Verlassen, das vom Manne gesagt wird, findet in Christus noch einmal eine ganz andere Bedeutung und einen ganz anderen Sinn. Der Sohn Gottes reißt sich von verrückter Liebe gepackt vom Vaterhaus los und läuft einer Frau nach. Diese Frau aber ist seine Gemeinde.

  • Er reinigt sie durch die Taufe.
  • Er liebt sie wie sein eigenes Fleisch.
  • Er gibt sich ganz für sie und heiligt sie.
  • Er stellt sie wunderschön dar, ohne Flecken und Runzeln.

In der Ehe von Mann und Frau bildet sich der Weg Jesu vom Vaterlassen des Vaters hin zu seinen Menschen und der Vereinigung mit ihnen ab. Welche geistliche Bedeutung hat die Ehe! Die Ehe ist kein Sakrament, das Heil vermittelt. Und doch ist sie eine hochgeistliche Beziehung. Sie ist im Grundmuster des Weges Jesu verankert.

3. Homosexualität

Tatsächlich finden sich in der Schrift nur wenige Stellen zur Homosexualität. Immer wieder wird dieser Umstand als Argument ins Feld geführt, dass die Frage der Homosexualität eine Randfrage sei und der Streit darum im Grunde vernachlässigbar sei. Wer so argumentiert, übersieht allerdings, dass gerade die vor allem im sog. Heiligkeitsgesetz[6] im Buch Levitikus angeführten Stellen von dem ursprünglichen Gotteswillen durchdrungen sind. Bestehende Eheverhältnisse sollen respektiert, die in der Großfamilie lebenden unverheirateten Mädchen sollen geschützt und widernatürlicher geschlechtliche Verbindungen sollen verboten werden. Das zahlenmäßig geringe Vorkommen dieser Aussagen schränkt daher ihre grundsätzliche Bedeutung nicht ein. Den genannten Stellen gemeinsam ist die Tatsache, dass sie aus einer theologischen Gesamtperspektive heraus argumentieren. Auch Paulus setzt diese Perspektive voraus. Die in der Schöpfung gegebene Ordnung der Ehe soll erhalten werden. Wo diese Ordnung verlassen wird, wird sie erneut in Erinnerung gebracht, bzw. davon abweichendes Verhalten scharf verurteilt. Was mit der Schöpfung ein für alle Mal gegeben und grundgelegt ist, muss nicht auf jeder Seite der Bibel neu wiederholt werden.

Schauen wir uns nun die Stellen genauer an:

Lev 18,22f: „Bei einem Mann sollst du nicht liegen (mit einem Mann sollst du nicht schlafen), wie man bei einer Frau liegt. Ein Gräuel ist es. Und bei keinem Vieh sollst du liegen, so dass du dich an ihm unrein machst. Und eine Frau soll sich nicht vor ein Vieh hinstellen, damit es sie begatte. Es ist eine schändliche Befleckung.“

Lev 20, 13: „Und wenn ein Mann bei einem Manne liegt, wie man bei einer Frau liegt, dann haben beide ein Gräuel verübt. Sie müssen getötet werden; ihr Blut ist auf ihnen.“

Wir können Lev 18,22 wie folgt wieder geben: „Keine sexuelle Verbindung mit einem Menschen männlichen Geschlechts, als wäre er eine Frau, sollst du eingehen.“ Der homosexuelle Verkehr unter Männer wird damit strikt untersagt.  An beiden Stellen wird dabei die Vokabel „to’ebah“ verwendet. In der Lutherbibel mit „Gräuel“ übersetzt, spricht das Wort eine absolute Tabuisierung aus. Das Wort will Abscheu erwecken. Gerhard von Rad sagt: „To’ ebah bezeichnet alles, was gegen den Willen Jahwes geschieht; jeder Verstoß gegen das Gesetz Jahwes ist ihm „deinem Gott“, ein Gräuel (Dtn 17,1; 22,5; 23,19; 22,16).“[7]

Wie erklärt sich nun diese scharfe Ablehnung? Nach Karl Barth rüttle die Homosexualität an der gottgegebenen sexuellen Orientierung innerhalb der Ein-Fleisch-Ehe. Er sagt, dass die Homosexualität im Licht der Schöpfungslehre eine Perversion sei.[8] Der häufig vorgebrachte Einwand, dass es sich dabei lediglich um die Ablehnung von kultischer Homosexualität, also um die Ablehnung von Kultprostitution, wie sie in Kanaan üblich war, handelt, trifft den Sachverhalt allerdings nicht. Das Verbot gilt grundsätzlich.  Es wäre für den Glauben Israels, indem Alltag und Kultus immer streng aufeinander bezogen waren, undenkbar, nur kultische Prostitution bzw. Homosexualität abzulehnen und daneben eine „profane Homosexualität“ zu erlauben. Das ganze Volk ist angesprochen. Es soll der Heiligkeit Gottes entsprechen und dies geschieht eben auch hinsichtlich der Sexualpraxis. Israel sollte durch die göttliche Erwählung, durch den Bund und die Befolgung der Gebote Gottes der heidnischen Unreinheit entrissen werden. Es sollte ein heiliges Volk sein.[9]

Dass Israel den Unterschied machen sollte, scheint mir zentral zu sein: Innerhalb einer von Sexualität beherrschten Umwelt, in welcher der Sex Gesellschaft und Religion in hohem Maß beherrschte, sollte nach jüdischem Verständnis die Sexualität geheiligt werden, was im Hebräischen so viel heißt wie „ausgesondert aus der Welt“.[10] 

„Sexualität“, so schreibt der Jude Dennis Prager, „wurde in das eheliche Bett von Mann und Frau verlagert“.[11] Das war für die Zeit des AT ebenso revolutionär wie für die Zeit des Neuen Testaments. Die jüdische, genauso wie 1000 Jahre später die christliche Zivilisation wollte sich auf diesem Wege ganz bewusst – genauso wie beim Götzendienst – von anderen Völkern unterscheiden. Dies tat es in der stärksten und eindeutigsten Sprache, die ihm möglich war.

Angesichts einer solch eindeutigen Zurückweisung homosexuellen Verhaltens lässt sich diese nur schwer, wie häufig bemerkt wird, als zeitbedingt erkennen. So hat schon der Alttestamentler Walther Eichrodt in den 60er Jahren geschrieben: „Die Bedeutung der alttestamentlichen Stellungnahme zur Homosexualität erschöpft sich aber nicht in einer vereinzelten Verurteilung aus einem uns nicht mehr fassbaren Empfinden antiker Sittlichkeit heraus, sondern steht mit dem alttestamentlichen Gottesbild im engsten Zusammenhang und bekommt von daher seine tiefe Bedeutung. Denn jedem Einzelverbot entspricht ein Wissen um Gottes ursprünglichen Schöpferwillen, durch den das Verhältnis der Geschlechter seine Ordnung empfängt.

Ein ähnliches Bild zeigt sich zur Zeit des Paulus.  Die Evidenz homosexueller Beziehungen in der griechischen Antike ist so überwältigend, dass er wohl unweigerlich in Korinth und anderswo mit diesem Phänomen konfrontiert wurde.  Speziell in Korinth waren der Apollo- und Aphroditekult dafür verantwortlich, dass Sexualpraktiken der verschiedensten Art üblich waren. Es ist zu vermuten, dass die Griechen die autoerotischen und homosexuellen Abenteuer ihrer Götter geradezu imitierten. Darauf weist unter anderem der in der damaligen Zeit gängige griechische Begriff „korinthiazomai“ hin, der so viel bedeutete, „leben wie die Korinther hinsichtlich sexueller Perversität.“ 

Auf einem solchen Hintergrund sind die einschlägigen Stellen in 1Kor 9,  1Tim 1, und sicher auch  in Rö 1, zu verstehen. Es gibt sich damit ein Bild, ganz ähnlich wie im Kontext des Alten Testament. Die junge, christliche Gemeinde lebte in einer Umwelt, welche die sakrale homosexuelle Prostitution wie auch sonstige sexuelle Perversion kannte. Eine solche sexuelle Präferenz wird als heidnisch eingestuft, von Menschen praktiziert, die den lebendigen Gott Israels und der Christen nicht kennen. Die christliche Gemeinde stellt demgegenüber eine neue Schöpfung dar. Homosexuelle, die bekehrt wurden, fanden zu einem neuen Umgang mit ihrer Sexualität.

Fassen wir die Aussagen zusammen, so sollte deutlich werden, dass die biblischen Stellungnahmen zur Homosexualität keine zeitbedingten Aussagen darstellen, sondern daran interessiert sind, den ursprünglichen Schöpfungswillen Gottes gegenüber dem Heidentum zur Geltung zu bringen. Es greift daher zu kurz, wenn man die betreffenden Stellen mit dem Hinweis als überholt abtut, dass Paulus noch nichts von einer anlagebedingten Homosexualität wissen konnte und daher seine Aussagen zumindest zu differenzieren seien.

Diesem immer wieder vorgetragenen Einwand ist zwar insofern zuzustimmen als Paulus von der medizinischen Forschung unserer Zeit nichts wusste. Dennoch lassen sich mit diesem Einwand seine Aussagen nicht einfach entkräften. Denn selbst wenn Paulus und die anderen Verfasser der biblischen Schriften von einer konstitutionellen Homosexualität nichts wussten, so lassen deren Aussagen doch eine grundsätzlich negative Deutung erkennen. Sie beschreiben eine tiefgreifende Beziehungsstörung des Menschen zu Gott. Die Tatsache, dass etwas als vorfindliche, vielleicht sogar genetisch bedingte und tatsächlich unabänderliche Gegebenheit da ist, besagt nicht, dass es von Gott als eine Struktur des Lebens bejaht und gewollt ist. Ulrich Eibach sagt daher meiner Meinung nach völlig zu Recht: „Das Natürliche ist keineswegs immer das Gott-Gewollte.“ Die homosexuelle Veranlagung sagt mithin nichts darüber aus, ob Homosexualität nach Gottes Willen auch sein soll und wie sie ethisch und theologisch zu beurteilen ist.[12]

4. Die Not Homosexueller im Kontext der christlichen Gemeinde

Was exegetisch meiner Meinung nach evident ist, scheint nun allerdings im konkreten Lebenszusammenhang höchst problematisch zu sein. Bennett beschreibt, wie er sich als Homosexueller insbesondere von Christen wahrgenommen fühlt. „Wenn Christen mir sagten, sie seine gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, machte mich das wütend. Ich hielt den christlichen Gott für ein moralisches Ungeheuer, das in einem Akt göttlicher Kindesmisshandlung den eigenen Sohn am Kreuz bestraft hatte. Nun war er zu einer Waffe in der Hand der Homophoben geworden, die ihn dazu benutzten, LGBTQI-Leute ihrer Recht zu berauben. Jedes Mal, wenn ein Christ von der traditionellen Ehe sprach oder gar einen Kommentar über Homosexualität von sich gab, hörte sich das an wie Hass. Die Worte „Homosexualität ist eine Sünde“ bedeuten, dass wir keine Beziehung zu Gott und keinen Liebenspartner haben konnten, also beides der beiden Dinge, die dem menschlichen Leben Glück und Sinn geben. Es kam mir vor, als nähme man uns alle Würde und löschte damit unser Dasein einfach aus.“[13]

Die mit solchen Äußerungen verbundenen Kämpfe und die damit verbundene Verzweiflung können nur erahnt werden. Homosexuelle erfahren nicht zuletzt in christlichem Kontext Ablehnung. Dass dies ein Grund zur Buße ist, sollte innerhalb der christlichen Gemeinde ernsthaft thematisiert werden.

Wie geht die christliche Gemeinde mit ihren homosexuellen Mitgliedern um? Mein früherer Lehrer Manfred Seitz konnte einmal sagen: „Lasst sie in Ruhe.“ Er wollte damit zum Ausdruck bringen, dass man um die homosexuelle Lebensweise nicht so viel Aufhebens machen sollte. Eine große Portion Empathie und auch der Wunsch, Homosexuelle nicht der Diskriminierung preiszugeben schwang in dieser Aussage mit. Mag sein, dass dieser Weg vor 30 oder 40 Jahren noch eine Option gewesen ist. Der Druck zu Gleichstellung war allerdings in den letzten Jahren nicht nur groß, sondern auch erfolgreich. Die Homosexuellen-Bewegung sucht die völlig rechtliche Akzeptanz, auch in der Kirche. Der gutgemeinte Vorschlag von Seitz, es auf sich beruhen zu lassen, hat sich daher überholt.

Die Kirche hat inzwischen mit dem Angebot der kirchlichen Segnung bzw. Trauung einen anderen Weg der Akzeptanz eingeschlagen.  Dabei verschweigt sie allerdings, dass der göttliche Ehesegen exklusiv der Verbindung eines Mannes und einer Frau vorbehalten ist. Es ist etwas anderes, Homosexuelle als Einzelne zu segnen als die Verbindung Homosexueller.

Ein starkes Argument zur Segnung homosexueller Beziehungen war der Verweis auf die Dauer, Treue und Verbindlichkeit solcher Beziehungen. Wo diese Werte entsprechend gelebt würden, sei eine homosexuelle Beziehung durchaus einer Ehe vergleichbar. Der Trauung stünde damit nichts mehr im Wege. Hintergrund dieser Argumentation ist die in Korinth verbreitete Praxis der Lustknaben. Herrschaftsausübung eines Stärkeren gegenüber einem Schwächeren und purer Lustgewinn seien die Signatur solcher Beziehungen. Wo dazu im Unterschied Treue und Verbindlichkeit gelebt würden, sei eine solche Beziehung durchaus ethisch akzeptabel und daher einer Ehe gleichzustellen.

Die Frage ist, ob man die der Ehe innewohnenden Werte automatisch auf andere Lebensformen übertragen kann. Mit gleicher Argumentation könnte man etwa behaupten, dass eine Mehr-Ehe, die von Dauer, Treue und Verbindlichkeit geprägt ist, theologisch vertretbar sei.

Ebenso vermag das Argument, dass die genannten homosexuellen Beziehungen keinesfalls auf Augenhöhe geführt wurden, an dieser Stelle nicht zu überzeugen. Denn auch heterosexuelle Beziehungen besaßen in der Antike ein Gefälle. Wenn das Argument stimmen würde, dass man damalige Aussagen zur Sexualethik wegen unterschiedlichen Vorstellungen zum Thema Gleichberechtigung nicht übernehmen dürfe, dann würde Paulus überhaupt nichts über heutige Partnerschaften sagen können. Dann könnte man auch das sagen, was heute immer öfter behauptet wird: Familie ist da, wo Menschen gleichberechtigt Verantwortung füreinander übernehmen – in welcher Konstellation auch immer. Es gäbe dann keine Konstellation mehr, der eine besondere Wertschätzung und ein besonderer Schutz zukommt, wie es unser Grundgesetz aus gutem Grund noch garantiert.

Zwar sind die genannten Werte zu achten und jeder zwischenmenschlichen Beziehung zu wünschen. Innerhalb der Ehe von Mann und Frau besitzen sie jedoch eine besondere theologische Würde. Die Ehe besitzt einen Verweischarakter. Als „Ikone Gottes“ weist sie auf den dreieinigen Gott. In der Polarität der Geschlechter in der Ehe drückt sich etwas vom Wesen des biblischen Gottes aus, der in sich selbst als Beziehung zwischen Verschiedenen existiert.

Ein anderer Weg des Umgangs innerhalb der christlichen Gemeinde, der genauso unbarmherzig sein kann, besteht in Forderung nach sexueller Umorientierung. Besonders der Vorwurf, sie sollen sich mit Gottes Hilfe ändern, zeigt von großer Unkenntnis und kann schmerzhaft  sein. Davon weiß auch Torsten Dietz zu berichten: „Seit Jahrzehnten wird die Botschaft verkündet: Veränderung ist möglich, den Aufrichtigen lässt es Gott gelingen. Demgegenüber stehen neben manchen Veränderungszeugnissen unzählige Geschichten von Verzweiflung, Doppelleben, Selbsttötung, Selbstverstümmelung etc. Aus so manchem Ex-gay wurde mit der Zeit ein Ex-ex-gay. Seit Jahrzehnten haben sich alle seriösen therapeutischen Schulen und psychologischen Vereinigungen der Fachwissenschaften von der Idee distanziert, dass es die Möglichkeit therapeutischer Veränderung von Homosexualität gebe. Nirgendwo im Bereich der universitären Psychologie oder der anerkannten Fachverbände gibt es in Deutschland oder international Fachvertreter, die das für möglich halten. Seit Jahrzehnten haben die Leiter christlicher/evangelikaler Organisationen diesen Konsens ignoriert. Sie haben ihn vielmehr als Ergebnis politischer Einflussnahme und öffentlichen Drucks erklärt. Stattdessen haben sie vertraut auf die Arbeiten solcher christlicher Organisationen, die abseits anerkannter Therapieformate Hilfe und Veränderung als möglich ansehen.“[14]

Auch wenn ich Dietz in dieser Pauschalität nicht folgen kann, so beschreibt er doch die Not treffend. Die Gleichung, ändere deine homoerotische Neigung und alles wird gut, geht nicht auf. Zu Recht wird von Dietz betont, wie es übrigens von Markus Hoffmann von ehemals Wüstenstrom heute IdiSB ebenfalls zu hören ist, dass Homosexualität nicht therapierbar ist. Trotzdem bleibt in dieser Argumentation unberücksichtigt, dass es um seelsorgerlich sehr viel tiefere Fragen geht. Weniger um die Frage, wie kann ich meine Sexualität ändern als um die Frage, wer stillt meine Sehnsucht nach Beziehung? Wer bin ich? Wie kann ich zu mir selbst als Mann oder als Frau finden? Aus Gesprächen mit homosexuell empfindenden Christen weiß ich, wie durch die Klärung dieser Frage sehr viel Heilsames entstanden ist. 

Es bleibt also die Frage nach dem seelsorgerlichen Umgang. Wenn nun sowohl die kirchliche Trauung, die einer Akzeptanz homosexuellen Verhaltens gleichkommt, kein Weg ist. Aber auch der Weg sexueller Umorientierung im Sinne einer „Reparationstherapie“ nicht verheißungsvoll ist, was bleibt uns dann?

Kann das Verhalten Jesu im Umgang mit einer beim Ehebruch ertappten Frau Vorbild sein? Jesus nimmt diese Frau trotz ihrer Schuld an, verurteilt sie nicht und gibt ihr schließlich Gottes Gebot mit auf den Weg.

Auch Paulus spricht davon, dass wir uns als Christen annehmen sollen, so wie Christus uns angenommen hat. Als angenommene Sünder nehmen wir den anderen Sünder an. Dieser zentrale christliche Gedanke ermöglicht überhaupt erst ein Zusammenleben sowohl in der Gemeinde wie auch in einer Ehe oder Freundschaft. Und doch ist dieser weg im Blick auf die Annahme homosexueller Geschwister nicht leicht. Homosexuelle wollen als Menschen brutto geliebt sein und das bedeutet inklusive ihrer sexuellen Gefühle. Sie wollen nicht als Christen zweiter Klasse gesehen werden.  Was uns zu Christen macht, ist ja unsere Beziehung zu Jesus und nicht unsere geschlechtliche Orientierung.

Ich bin mir sicher, dass Jesus jeden homosexuell empfindenden und praktizierenden Menschen annimmt. Aber würde er auch sagen „Es ist gut so?“ Wir würden im Anschluss daran nicht nur die biblische Ethik übergehen. Wir würden auch etwas Wesentliches übersehen, nämlich die Tatsache, dass jede homosexuelle Liebe eine mit einer Verwundung gekennzeichneten Liebe ist. Der Schmerz dieser Wunde, nämlich dass homosexuelle Liebe eben gerade nicht zum ursprünglichen Beziehungskonzept des Schöpfers gehört, wird bleiben.

5. Sexualität unter der Christusherrschaft

Es ist eine harte Rede, wenn behauptet wird, dass der einzige legitime Ort für die Sexualität die Ehe von Mann und Frau ist. Eine solche lässt keine anderen Optionen zu. Weder die vor- oder außereheliche Beziehung noch die homoerotische. Aus der Sicht unserer modernen und vor allem sexualisierten Welt ist diese Rede nicht nur hart, sondern auch unmenschlich, ja sogar menschenfeindlich. Selbst innerhalb der katholischen Kirche finden sich inzwischen immer mehr Stimmen, die sich von der traditionellen Sexualmoral der christlichen Kirche verabschieden. Sexualität, so der inzwischen verstorbene Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff, „im Sinne des lustvollen Erlebens des eigenen Körpers“ vermittle Sinnstiftendes und sei Ausdruck des Humanum. Dabei spiele es keine Rolle, ob dieses lustvolle Erleben innerhalb einer Ehe, außerhalb einer Ehe oder auch in gleichgeschlechtlichen Handlungen verwirklicht wird. Sex wird hier als Grundrecht des Menschen gesehen, das auf unterschiedliche Weise verwirklicht werden kann.

Nun kann man Schockenhoff zugutehalten, dass er mit seiner reformulierten Sexualmoral dem Menschen unserer Zeit eine Brücke bauen will. Sie sollen sich nicht von einer scheinbar überkommenen christlichen Sexualmoral abgestoßen fühlen. Vielmehr sollen sie spüren, dass die Kirche mit der Zeit geht und was gesellschaftlich längst en vogue ist, nicht länger verdammen will. Käme die Kirche nicht endlich aus dem Sperrfeuer der Medien, wenn sie endlich mal von ihrer antiquierten Sexualmoral lösen würde? Würde die Kirche nicht mehr Zuspruch und Zuneigung finden, wenn sie sich an dieser Stelle offen, fortschrittlich und zeitgemäß präsentiert? Vorehelicher Sex – wo ist das Problem? Außereheliche Kontakte? Das kann durchaus inspirierend sein. Homosexuelle Liebe? Wer würde nicht auch die positiven Aspekte einer homosexuellen Beziehung sehen, die in Dauer, Treue und Verbindlichkeit gelebt wird? „Könnte sich die Kirche dann nicht endlich ihrer eigentlichen Aufgabe widmen, nämlich der Verkündigung des Evangeliums? Und würde eine entspannte Sicht auf die menschliche Sexualität nicht sogar ein Milieu schaffen, in dem die Vielen wiederkommen, die in Sachen Sex mit der Kirche über Kreuz gerieten?“ [15] So fragt Bernhard Meuser, der große Kritiker der neuen katholischen Sexualmoral in rhetorischer Absicht. Um dann sogleich zu kontern, dass die Kirche, wo sie diesen Weg der Anpassung beschreitet, nicht mehr an Einfluss und Anerkennung gewinnt, sondern im Gegenteil ihre Prägekraft verlieren würde.

Tatsächlich: Keine zentrale Lehre des Christentums ist heute so unpopulär wie diese- und zugleich erscheint mir kaum eine andere wichtiger. Die traditionelle kirchliche Sexualmoral erzeugt nicht nur bei Menschen außerhalb des Christentums Kopfschütteln und Widerstand. Auch viele Christen verstehen sie nicht und sind auch in keiner Weise bereit dies zu akzeptieren. Warum sollte man darauf auch hören?

Die Antwort lautet: Nicht um den Genuss einzuschränken, sondern um den Überfluss zu erleben und darin den Segen Gottes zu erfahren. Nicht nur in der Antike lebten die Menschen in einer übersexualisierten Gesellschaft. Auch heutzutage ist der Sex längst zum Götzen avanciert ist. Das Credo unserer Tage lautet daher vielfach: „Das Leben hat nur dann Sinn, wenn man zur sexuellen Erfüllung findet. Und Leben ohne Sex ist kein Leben.“

Doch stimmt das? Der Vorwurf, dass ein Leben ohne körperliche Sexualität krank mache oder schädlich sei, ist kaum haltbar. Gewiss gibt es vor allem junge Menschen, die an ihrer Sexualität verzweifeln und manche unter ihnen hat diese Verzweiflung sogar in den Selbstmord getrieben. Und doch muss ganz deutlich betont werden, dass es den Lehren Jesu widerspricht, wenn behauptet wird, ein Leben ohne Sex würde keine Erfüllung bieten. Wer Letzteres behauptet argumentiert eher im Einklang mit unserer westlichen Kultur als mit dem biblischen Christentum. Der homosexuelle Christ Sam Alberry sagt: „Sex ist ein mächtiges Verlangen, aber nicht grundlegend für die Ganzheit und Entfaltung des Menschen.“[16]

Wir stehen an dieser Stelle tatsächlich an für den Weg des Christentums in einer säkularen Welt entscheidenden Frage. Dies war, wie wir gezeigt haben, im Umfeld der frühen Kirche nicht anders. Das Christentum hatte, um in der Antike zu überleben, eine Gegenmoral entwickelt. Rod Dreher schreibt dazu: „Das Christentum, wie es Paulus verkündigte, bewirkte eine kulturelle Revolution, indem es den männlichen Eros eindämmte und kanalisierte, den Status der Frauen und des menschlichen Körpers erhöhte und die Ehe – und die Sexualität innerhalb der Ehe mit Liebe füllte.“[17] Die christliche Ehe war ein einer übersexualisieren Zeit etwas so radikal anderes wie etwa der bis daher nie Dagewesene Gedanke, dem anderen die andere Wange hinzuhalten. Der geordnete Gebrauch der Sexualität war das auffälligste Kriterium, nach welchem sich die Kirche von der Kultur des römischen Reiches unterschied. Dies betraf die hetero- wie auch homoerotische Sexualität in gleicher Weise. Es geht nicht um Moralismus oder den erhobenen Zeigefinger. Es geht vielmehr um ein geheiligtes Leben unter der Christusherrschaft. Paulus spricht davon, dass Christen nicht sich selbst, sondern dem Herrn gehören. Ihr Leib ist ein Tempel des Heiligen Geistes. Als dankbare Antwort auf die Barmherzigkeit Gottes geben sie Leib und Leben dem Herrn (Römer 12,1-3). Wie sich eine unter Christus gelebte Sexualität gestaltet, ist von daher die Herausforderung sowohl für hetero- als auch homosexuelle Christen.

  1. Christen wissen sich von Christus brutto geliebt. Tiefste und letzte Lebenserfüllung ist Christus selbst. Er ist das Brot, der die hungrige Seele sättigt, der Weinstock, der Lebensfreude spendet und der Hirte, der das Leben zum Ziel und zur Vollendung bringt. Letzte und tiefste Lebenserfüllung kann daher weder von einem Partner, noch der Familie noch sonst irgendetwas erwartet werden. Nicht die Sexualität bringt Lebensglück und Erfüllung, sondern Christus.
  2. Die Ehe eines Mannes mit einer Frau ist der Ort in dem die Sexualität als Gabe in Liebe und Freiheit gelebt werden soll. Sex als egoistischer Lustgewinn ist damit ebenso ausgeschlossen wie jede Form der Promiskuität. Die Ehe als Bundeszeichen der Vereinigung Gottes mit seiner Gemeinde. Sie ist ein matter Abglanz der Vereinigung von Gott und Mensch.
  3. Homosexuell empfindende Christen wissen sich wie alle anderen Christen auch, von Christus brutto geliebt und in ihrem Inneren gestillt. In der Christusbeziehung erfahren sie ihren Wert und ihre Würde wie alle anderen Menschen auch. Im Blick auf die gelebte Sexualität empfinden sie allerdings – möglicherweise ganz ähnlich – wie Paulus einen Stachel im Fleisch (2. Kor 12,9). Dieser schmerzhafte Stachel kann als Schmerz empfunden werden.

    Ähnliches schreibt der homosexuell empfindende Henri Nouwen.  Zum Ende seines Lebens hin schrieb er: „Meine Sexualität wird bis zu meinem Tod eine große Quelle des Leidens sein. Ich glaube nicht, dass es irgendeine ‚Lösung‘ dafür gibt. Der Schmerz ist wahrhaftig der meine und ich muss ihn mir zu Eigen machen. Jede ‚Beziehungslösung‘ wäre ein Desaster. Ich fühle mich zutiefst von Gott dazu berufen, meinem Gelöbnis entsprechend zu leben, auch wenn viel Schmerz damit verbunden ist. Doch ich vertraue darauf, dass dieser Schmerz Frucht bringen wird.“12 Nouwen konnte seine inneren Kämpfe nie ganz überwinden. Er lernte aber auch, sich ihrer nicht zu schämen. Wunnibald Müller, der Nouwen gut kannte, kann im Blick auf die Sexualität von Singles und Mönchen Hilfreiches sagen: „Bin ich in Berührung mit mir selbst und habe ich mein Fundament gefunden, meinen Boden bestellt, auf dem Leben gedeihen kann, dann weiß und spüre ich, dass die Nicht-Erfüllung meines sexuellen Verlangens mich nicht zu einem halben Menschen macht, mir nicht für das Leben wesentliche Erfahrungen vorenthält, mir nicht ein Leben in Fülle verunmöglicht. Es entgeht mir etwas, es entgeht mir etwas mitunter sehr Schönes und Lustvolles. Aber es entgeht mir nicht etwas, das mein Leben nicht länger lebenswert oder weniger wert oder weniger sinnvoll macht, wenn ich darauf verzichte.“[18]

Müller führt das Stichwort „Verzicht“ ein. Verzicht zu üben gilt sowohl für Singles wie auch für Verheiratete. Die Frage ist allerdings, ob ein solcher Verzicht besonders im Blick auf homosexuell Empfindende zumutbar ist. Martin Grabe und anderer sind hier anderer Meinung. Sie rekurrieren dabei auf Paulus, der davon ausgehe, dass es einem „gegeben sein müsse, ehelos zu leben“. Im Grunde handle es sich um ein Charisma, das nur wenigen gegeben sei. Wie aber ist es mit den Christen, die laut Jesus um des Himmelreiches willen, also aufgrund persönlicher Entscheidung, auf die Ehe und damit auf Sexualität verzichten (Mt 19,12)? Hier ist von bewusstem Verzicht die Rede. Sexuelle Abstinenz als Gabe zu beschreiben, die nur wenigen möglich sei, scheint mir riskant. Was ist mit Verheirateten, die teilweise abstinent leben? Was ist mit Verwitweten? Was ist mit Sex vor der Ehe? Natürlich bedeutet für homosexuelle Christen der zölibatäre Lebensweg nicht weniger als eine „Lebensaufgabe“, so Wolfram Soldan.[19]

  • Verheiratete, Singles und homosexuell Empfindende finden ihren Platz innerhalb der christlichen Gemeinde. Gemeinde aber ist ein Ort, in der nicht das eheliche Leben noch die Familie absolut gesetzt werden dürfen. Vielmehr steht der Gedanke der Gemeinschaft von Unterschiedlichen im Vordergrund. In der Gemeinde lebt man miteinander und leidet man zusammen. Der eine kommt dem anderen mit Ehrerbietung zuvor. Sie tragen einander, vergeben einander und wenn einer fällt, helfen ihm die anderen wieder auf. So sind sie, Heteros- und Homos gemeinsam auf dem Weg zu dem Ort, wo Christus ihre Defizite heilt und ihr Leben ans Ziel und damit zur Erfüllung kommt.

[1] Manfred Seitz, Praxis des Glaubens, Göttingen 1979, 82.

[2] Oswald Bayer, Schöpfung als Anrede, Tübingen 1986, 58.

[3] Barbara Gerl-Falkowitz, Frau – Männin – Menschin. Zwischen Gender und Feminismus, Kevelaer 2009,  86.

[4] Timothy Keller, Ehe. Gottes Idee für das größte Versprechen des Lebens, 2. Aufl, Gießen 2014, 229.

[5] A.a. O., 232.

[6] Das Heiligkeitsgesetz im dritten Buch Mose umfasst die Kapitel 17-26. Es ist benannt nach der Mahnung im Eingang von Kapitel 19,2: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.“  (vgl. 20,7; 21,6.8).

[7] Gerhard von Rad, Theologie AT, Bd 1, 197.

[8] Karl Barth, Kirchliche Dogmatik III/4, 166.

[9] Vgl. Helmer Ringgren, Israelitsche Religion, 292ff.

[10] Vgl. Dennis Prager, Die Ablehnung der Homosexualität im Judentum, in: Brennpunkt Seelsorge. Beiträge zur biblischen Lebensberatung, Reichelsheim 1997, 89.

[11] A.a.O.

[12] Ulrich Eibach, Homosexualität und Kirche, in ThBeitr a.a.O., 192ff.

[13] David Bennett, Liebe total, Fontis 2021, 64

[14] Thorsten Dietz, Weiterglauben, Brendow

[15] Bernhard Meuser, Freie Liebe. Über neue Sexualmoral, fontis 2020, 209.

[16] Sam Alberry, Ist Gott homophob? 2. Aufl., Dillenburg 2021, 110.

[17] Rod Dreher, Die Benedikt Option, 2. Aufl., Kißlegg 2018, 315.

[18] Wunnibald Müller, Liebe und Zölibat, Münsterschwarzach 2012.

[19] Wolfram Soldan, Hilfreiche Hinweise. https://www.bibelundbekenntnis.de/aktuelles/hilfreiche-hinweise-und-argumente-die-nicht-ueberzeugen/