Kippt jetzt auch Württemberg? – Ein Zwischenruf von der Gemeindebasis

Jörg Schietinger, Vorsitzender eines Kirchengemeinderates in Esslingen und Mitglied des württembergischen Arbeitskreises unseres Netzwerks, schreibt:

Im Nachgang zur Bischofswahl in Württemberg veröffentlichte Prof. Dr. Rolf Hille unter dem Titel „Kippt jetzt auch Württemberg?“ einen kenntnisreichen und treffenden Kommentar in idea 12.2022. Kippt jetzt auch Württemberg? Um es vorwegzunehmen: Aus Sicht nicht weniger pietistisch geprägter Gemeindeglieder der Landeskirche ist Württemberg bereits „gekippt“. Dabei geht es nicht nur – aber auch – um die Wahl des Ulmer Dekans Ernst-Wilhelm Gohl zum neuen Landesbischof.

Segnungsgottesdienste für gleichgeschlechtliche Paare

Im Frühjahr 2019 hat die Synode der Württembergischen Landeskirche mit der hierfür notwendigen Zweidrittel-Mehrheit das „Gesetz zur Einführung eines Gottesdienstes anlässlich einer Eheschließung zwischen zwei Personen gleichen Geschlechts“ beschlossen. Auch wenn vor drei Jahren seitens der Kirchenleitung und einer Menge Theologen behauptet wurde und bis heute behauptet wird, dass das keine bekenntnisrelevante Entscheidung gewesen sei, sehen das viele mündige, weil am biblischen Wort orientierte Gemeindeglieder der Landeskirche völlig anders: Dieses Gesetz ist und bleibt bibel-, bekenntnis- und damit auch kirchenverfassungswidrig ist. Es stellt einen Bruch mit den eindeutigen Aussagen der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments und der reformatorischen Tradition dar. Württemberg ist spätestens seit diesem Synodenbeschluss gekippt.

Die Rolle des Gesprächskreises „Lebendige Gemeinde“

Wie bei der Bischofswahl dieser Tage, so hat auch damals beim „Segnungsgesetz“ der Gesprächskreis „Lebendige Gemeinde“ (LG) eine entscheidende – und für viele LG-Wähler enttäuschende – Rolle gespielt. Die Zweidrittelmehrheit für das „Segnungsgesetz“ kam nur durch Stimmen von Synodalen der LG zustande. Und Ernst-Wilhelm Gohl wurde nur mit Stimmen von Synodalen der LG zum Landesbischof gewählt. Die jeweils nachträglichen Erklärungen der LG haben dieselbe Tonlage: Man wollte die Einheit der Kirche nicht gefährden. Man wollte Schaden von der Kirche abwenden. Nun, wer könnte dem nicht zustimmen? Allerdings sahen das mindestens die beiden Gesprächskreise „Offene Kirche“ und „Evangelium und Kirche“ offensichtlich anders. Es ist durchaus denkbar, dass sie der „Lebendigen Gemeinde“ ihr „Entgegenkommen“ nicht danken werden. Den „Aderlass“ der LG bei der letzten Synodalwahl führen Kenner des kirchlichen Lebens in Württemberg durchaus auch darauf zurück, dass eben nicht nur einige wenige, sondern recht viele LG-Synodale dem „Segnungsgesetz“ zugestimmt haben. Es bleibt schmerzlich, dass die LG dies bis heute nicht korrigiert und darüber nicht Buße getan hat. Anzunehmen ist, dass das Wahlverhalten von LG-Synodalen bei der Bischofswahl die LG bei der nächsten Synodalwahl erneut Stimmen kosten wird, denn wieder macht sich an der pietistischen Gemeindebasis Enttäuschung breit. Haben bei der letzten Synodalwahl noch viele die LG gewählt, um Schlimmeres zu verhindern, so bröckelt diese Motivation Stück um Stück, denn die Frage ist mittlerweile: Wird denn überhaupt Schlimmeres verhindert?

Doch was hat das mit der Wahl des neuen Landesbischofs zu tun? Nun, er ist ein Befürworter der Homosegnung und hat dafür sogar einen Preis bekommen (siehe https://evangelium-und-kirche.de/gohl-reinhold-maier-preis). Insgesamt bestehen in Sachen Kirchenpolitik über den Gesprächskreis der „Lebendigen Gemeinde“ mittlerweile kaum mehr Wünsche und Erwartungen und auch wenig Hoffnung.

„Auswanderung“ der Pietisten

Auch wenn von offizieller, d.h. kirchenleitender Seite immer wieder betont wird, dass der Pietismus eine wichtige Bewegung innerhalb der württembergischen Landeskirche sei, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass bewusst oder unbewusst der Auszug der Pietisten aus der Landeskirche hingenommen, wenn nicht teilweise sogar gefördert wird. Manche haben ihre Mitarbeit eingestellt, weil es einfach zu viel Kraft kostet, wenn man evangelistisch-missionarische Gemeindearbeit gegenüber dem Pfarrer oder dem Kirchengemeinderat begründen und verteidigen muss. Andere verdorren unter der Kanzel wegen der faden Suppe von Predigten, die nicht das kraftvolle und herrliche Evangelium vom Retter und Richter Jesus verkündigen und suchen sich frische Quellen. Und sicherlich nicht wenige haben deshalb eine neue Heimat in landeskirchlichen Gemeinschaften oder freien Gemeinden gefunden, die volle geistliche Versorgung anbieten. Aber all das schwächt eben auch die Gemeinden. Denn nach wie vor kann eine landeskirchliche Gemeinde ein tragfähiges Gerüst für eine erwecklich-missionarische, bibel- und bekenntnisorientierte Gemeindearbeit sein. Gerade Menschen am Rand der Gemeinde sind z.B. über die Kasualien gut erreichbar.

Finanzen, Pfarrpläne, Zusammenarbeit in Distrikten und Fusion von Kirchengemeinden

Weniger Kirchenmitglieder und damit verbunden auch reduzierte finanzielle Mittel werden zu weiteren Einsparungen führen. Damit einher gehen kleiner werdende Gemeinden (jedenfalls was die Anzahl der kirchensteuerzahlenden Mitglieder betrifft), immer neue Pfarrpläne, die i.d.R. auch eine Reduzierung der Gemeindepfarrstellen zum Inhalt bzw. zur Folge haben. Gemeinden sollen deshalb auf Distriktebene (mehrere nebeneinander liegende Parochien in einem Dekanat/Kirchenbezirk) stärker zusammenarbeiten oder sogar fusionieren. Das birgt die Gefahr, dass das o.g. Profil pietistisch geprägter Gemeinden eingeebnet wird. Wie soll denn z.B. eine gemeinsame Kinderbibelwoche zweier Kirchengemeinden eines Distrikts aussehen, wenn die eine der Gemeinden reformatorisch-pietistisch geprägt ist und die andere eine „Regenbogengemeinde“ ist? Wie soll es funktionieren, wenn im Sinne einer „teamorientierten“ Gemeindearbeit ein theologisch liberaler Pfarrer auch den Konfirmandenunterricht in einer theologisch konservativen Gemeinde halten soll. Andererseits kann es auch eine Chance sein, die es klug zu nutzen gilt: Lebendige Gemeinden mit einem biblisch-reformatorischen Profil können zumindest versuchen sich gegen solche Vorhaben wehren.

Perspektiven

Nüchtern betrachtet, sieht das alles jedoch nicht unbedingt verheißungsvoll aus. Was können Christen tun, die in der Landeskirche bleiben, die in landeskirchlichen Gemeinden weiter mitarbeiten wollen? Christen, die auch gar keinen Grund haben, dieser Kirche den Rücken zu kehren oder auszutreten, weil es ja nicht sie sind, die die biblisch-reformatorische Linie, in der diese Kirche steht, verlassen. Was können Christenmenschen tun, die ihre Kirche lieben und immer noch tief in ihr verwurzelt sind, denen erwecklich-missionarische und bibel- und bekenntnisorientierte Gemeindearbeit in eben dieser Landeskirche ein Herzensanliegen ist? Natürlich gibt es keine einfachen Lösungen und keine Patentrezepte. Ganz im Gegenteil Aber sicherlich werden wir mittelfristig – nicht langfristig – intensiver über örtliche Gemeindeformen nachdenken müssen. Gemeindeformen, die innerhalb der Landeskirche und zugleich außerhalb der kirchenpolitischen Entscheidungen sind, sofern sie bibel-, bekenntnis- und damit auch kirchenverfassungswidrig sind. Zudem brauchen wir dringend ein (auch finanzielles) Konzept für die Pfarrer, die aufgrund ihrer klaren biblisch-reformatorischen Haltung und aufgrund der Tatsache, dass sie ihr Ordinationsgelübde ernst nehmen, zunehmend Schwierigkeiten bekommen. Es ist und bleibt unsere Kirche! Doch die eigentliche Perspektive ist noch viel besser, viel stärker, viel verheißungsvoller: Christus ist der Herr der Kirche, Jesus ist der Herr der endzeitlichen Gemeinde, der er die ganz große Verheißung gibt: „Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan und niemand kann sie zuschließen; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet.“ (Offb 3,8).

Mit dieser Perspektive ist Württemberg noch nicht gekippt.

Jörg Schietinger
Vorsitzender eines Kirchengemeinderates in Esslingen
Mitglied des württembergischen Arbeitskreises Bibel und Bekenntnis