Transformative Ethik?

Transformative Ethik

Anfragen von Ulrich Parzany

Thorsten Dietz (Professor an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg) und Tobias Faix (Professor an der CVJM-Hochschule Kassel) haben den ersten Band ihrer „Transformativen Ethik“ veröffentlicht: „Wege zum Leben, Einführung in eine Ethik zum Selberdenken“, Neukirchener Verlag 2021, 414 Seiten.

Eine christliche Ethik muss selbstverständlich die Transformation des Lebens der Christen in den Blick nehmen. Paulus fordert die Christen in Römer 12,2 auf: „Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“ Die Grundlage für diese Aufforderung besteht in der Barmherzigkeit Gottes (Römer 12,1), die uns Gottlose durch Jesus Christus, sein stellvertretendes Sterben und Auferstehen, aus Gnaden rechtfertigt und mit Gott versöhnt. Auf diese biblischen Aussagen beziehen sich auch Dietz und Faix ausdrücklich. (S. 74) Aber transformativ nennen die Autoren ihre Ethik nicht vor allem wegen dieser biblischen Aufgabenstellung. Die großen Transformationen der Moderne und Postmoderne sind für sie maßgebend für die ethische Orientierung heute.

Ein Ergebnis vorab

Ich gebe zu, dass ich auf ihr Buch besonders gespannt war, weil ein konkretes Ergebnis der darin entfalteten ethischen Überlegungen bereits im Juli 2020 öffentlich Aufsehen erregte. Thorsten Dietz hat an einem heute aktuellen Beispiel demonstriert, was ein Ergebnis seines ethischen Denkens ist, das er offensichtlich mit Tobias Faix teilt. Er hat die Forderung von Martin Grabe, dass gleichgeschlechtliche Paare auch in christlichen Gemeinden als Eheleute wie Mann und Frau getraut und gesegnet werden sollen, begrüßt und unterstützt. Nachdem der Bundestag die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare legalisiert hatte, sind alle evangelischen Landeskirchenleitungen dem gefolgt und haben die kirchliche Trauung oder Segnung gleichgeschlechtlicher Paare eingeführt.

Sogenannte konservativen Gemeinden und Gemeinschaften lehnen die Segnung und Trauung gleichgeschlechtlicher Paare weiterhin ab, weil sie praktizierte Homosexualität für Sünde halten und die Kirche nicht segnen darf, was Gott nicht segnet. Konservativ heißt in diesem Fall: Gemeinden, in denen die Bibel als maßgebende Autorität für Glauben, Leben und Lehre gilt, und die sich auch im Blick auf die ethische Bewertung homosexueller Handlungen an die Bibel gebunden sehen.

Thorsten Dietz schloss sich unverzüglich öffentlich der Feststellung von Martin Grabe, dem Direktor der Klinik Hohe Mark Oberursel, an: „Homosexuelle Christen dürfen ebenso wie heterosexuelle Christen eine verbindliche, treue Ehe unter dem Segen Gottes und der Gemeinde eingehen und sind in der Gemeinde in jeder Hinsicht willkommen.“

Niemand wird bezweifeln, dass dies eine tiefgreifende ethische Transformation ist, nachdem bisher in der gesamten Geschichte Israels und der Christenheit Konsens darüber bestand, dass Ehe die Beziehung zwischen Mann und Frau bezeichnet. Da darf man wohl gespannt sein, was die Grundüberlegungen einer Ethik sind, die auch eine solche einschneidende Transformation rechtfertigen sollen. Ist das die in Römer 12,2 geforderte Veränderung und Erneuerung nach Gottes Willen?

Gesellschaftstransformation?

Ich will hier nur einige Beobachtungen und Anmerkungen niederschreiben, die mir beim neugierigen Lesen kamen. Weil es eher kritische Anmerkungen sind, betone ich, dass ich auch viel Bedenkenswertes und Überzeugendes gelesen habe. Ich nehme an, dass fachkundigere Theologen sich mit dem vorgelegten Werk von Thorsten Dietz und Tobias Faix gründlich auseinandersetzen werden.

In ihrer „transformativen Ethik“ haben die Autoren ein doppeltes Ziel: „Dabei gehören die Gestaltung der Gesellschaft und die Veränderung der beteiligten Personen immer untrennbar zusammen.“ (S. 20)

Um es direkt zu sagen: Ich halte dieses doppelte Ziel für maßlos und überfordernd. Die Verkündigung des Evangeliums hat zur Folge, dass Menschen sich zu Jesus bekehren, ein neues Leben geschenkt bekommen und in Gemeinschaft mit anderen Christen ihm nachfolgen. Das hat hoffentlich Ausstrahlung auf ihre Umgebung. Oft war die Reaktion der Gesellschaft allerdings Ablehnung, Feindschaft und Verfolgung. Nirgendwo hören wir, dass Gemeinden die Transformation der Gesellschaft von Philippi, Saloniki, Korinth oder Rom zum Ziel gehabt hätten.

Ich rechne zwar auch damit, dass ein durch Jesus verändertes Leben sich auf die Umgebung der Jesus-Nachfolger auswirkt. Jesus hat seine Jünger beauftragt, das Evangelium allen Menschen zu verkündigen, sie zu taufen und als Jünger Jesu zu lehren. Er hat ihnen zugesagt, dass sie Salz der Erde und Licht der Welt sind. Aber ich kann nicht sehen, dass Jesus seinen Jüngern den Auftrag zur Gesellschaftstransformation gegeben hat. „Darum, solange wir Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen!“ (Galater 6,10) Das hört sich bescheidener an, gibt aber genug zu tun.

Am Ende der Zeit wird Gott einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, in der Gerechtigkeit wohnt. Er wird die umfassende Transformation der Welt schaffen.

Was ist Maßstab für die Veränderung?

„In unserer geistlichen Tradition gehört die Bibel als Maßstab des Lebens selbstverständlich dazu und spielt deshalb auch in diesem Entwurf eine zentrale Rolle.“ (S. 21) Zugleich grenzen die Autoren sich ab und erklären, sie hielten „einen ungeschichtlichen Biblizismus für gleichermaßen problematisch wie eine christliche Bibelvergessenheit“. (S. 22)

Warum sie sich immer wieder von „Biblizismus“ abgrenzen, hängt wohl mit ihrer Biographie zusammen, die sie kurz skizzieren. (S. 42 – 45) Warum die Bibel dennoch irgendwie autoritative Bedeutung haben soll, wird nirgendwo in diesem Buch begründet. Die Autoren gehen davon aus, dass biblische Texte geschichtliche Impulse gegeben haben und irgendwie immer noch geben. Dazu passt die heute weit verbreitete Rede von „Narrativen“, also Erzählungen, die auch die Autoren ausgiebig gebrauchen. Sind diese Erzählungen bedeutungsträchtige Märchenerzählungen oder verlässliche Berichte von tatsächlichem Geschehen? Das bleibt offen, soll es wohl auch. Der Unterschied zwischen Offenbarung Gottes und Weltanschauungen, die von religiösen Menschen erdacht wurden, wird nicht einmal als Frage erwogen.

Die Autoren halten es einerseits für nötig, das Bibelverständnis zu klären, stellen aber andererseits fest, dass eine solche Klärung gar nicht wirklich möglich ist. Wie das? Na ja, man wird sich eben nicht einigen können.

„Für jede christliche Ethik ist daher die Auslegung der Bibel eine Schlüsselaufgabe. Denn in der Auslegung der Bibel bzw. im Streit um ihren rechten Gebrauch kann innerchristlich der Klärungsprozess betrieben werden, welche Orientierung wir im christlichen Glauben finden. Und das eigene Verständnis der biblischen Botschaft ist Grundlage für jede Teilnahme am öffentlichen Diskurs. Dass dabei sowohl die innerchristliche wie die öffentliche Gesprächslage grundlegend und irreduzibel plural ist, ist selbstverständlich. Mit dieser Pluralität leben zu lernen und das gemeinsame Leben in Verschiedenheit kommunikativ zu gestalten, ist eine Herausforderung, der sich angesichts der heutigen Lage der Menschheit niemand mit guten ethischen Gründen entziehen kann.“ (S.73)

Dass wir uns in einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft, zu der Menschen mit gegensätzlichen, sogar unvereinbaren Weltanschauungen gehören, um ein einigermaßen friedliches Zusammenleben bemühen müssen, ist in der Tat eine Riesenaufgabe und dringend geboten. Dass wir den gleichen Pluralismus innerhalb der christlichen Kirche als selbstverständlich hinnehmen sollen, ist eine Verleugnung der Herrschaft Jesu Christi über seinen Leib. Nicht alle ethischen Fragen, die Christen zu entscheiden haben, fallen in den Bereich der Adiaphora, mit denen Christen unterschiedlich umgehen, wie Paulus in Römer 14 lehrt. Es gibt für viele Lebensbereiche klare Gebote Gottes.

Für die Bibel gebrauchen die Autoren den Vergleich mit der Landkarte. Dabei ist ihnen aber der Hinweis wichtig, dass diese Landkarte schon alt ist und viele Wege gar nicht mehr existieren, die auf der Landkarte noch aufgezeigt werden. Andere, heute nötige Wege seien in der Landkarte „Bibel“ nicht vorhanden. (S. 24) Verstanden? Letzen Endes hilft die Bibel nicht wirklich.

Maßgebende Veränderungsprozesse der Moderne

Maßgebende Bedeutung für ethische Entscheidungen heute haben für die Autoren „die großen gesellschaftlichen Transformationen“ (S. 27: Veränderungsprozesse, Paradigmenwechsel), deren Auswirkungen sie am Verständnis von Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit ausführlich beschreiben. Dabei werden die geschichtlichen Impulse der Bibel („Die große Story: Das Narrativ Gottes mit den Menschen“ S. 144ff) gewürdigt. Deren Auswirkungen in der Geschichte hätten aber oft nur gegen den Widerstand der Kirchen durchgesetzt und weiterentwickelt werden können.

Geradezu aufgeschreckt bin ich bei dem folgenden Satz: „Denn wie es einschneidende geschichtliche Erfahrungen waren, die zu dieser Zuspitzung führten [gemeint ist die Anerkennung der Menschenrechte als „genuinen Ausdruck“ der moralischen Orientierung auch durch Christen, Anm. UP], so ist damit zu rechnen, dass neue Erfahrungen ihrerseits eine Weiterentwicklung der Ethik nötig machen werden.“ (S. 308) Die Autoren nehmen dabei den Klimawandel in den Blick. Ich erschrak, weil ich an die schreckliche Zeit Deutschlands denken musste, in denen „einschneidende geschichtliche Erfahrungen“ von vielen Christen als Gottesoffenbarung in der Geschichte gedeutet wurden – mit den bekannten grauenhaften Folgen. Bevor wir wieder einmal „einschneidenden geschichtlichen Erfahrungen“ eine normative Quasi-Offenbarungsqualität zubilligen, empfehle ich die erneute Lektüre und Beherzigung der Theologischen Barmer Erklärung von 1934.

Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit werden von den Autoren als Wegweiser für ethische Orientierung beschrieben. Die biblische Deutung dieser Begriffe spielt dabei durchaus eine Rolle, aber eben nicht vorrangig maßgebend. Das werden die Autoren möglicherweise bestreiten. Sie beteuern jedenfalls, „dass wir an dieser Stelle an unserem dritten Weg festhalten, einem Weg, der weder biblizistisch noch bibellos ist, jenseits von religiöser Sondermoral oder ausgrenzendem Säkularismus“. (S. 350)

Neue Schlüsselaufgabe der Ethik?

Obwohl die Sexualethik erst im zweiten Band behandelt werden soll, nehmen die Autoren das in der christlichen Welt umstrittene Thema Homosexualität zusammen mit der Frauenordination als Beispiel, um Wege bzw. Blockierungen für die Lösung dieser Probleme anzuzeigen. „Oftmals sind wir schnell dabei, diese in der Theologie zu verorten. Dafür gibt es auch gute Gründe, schließlich dreht sich der Streit nicht selten um die Auslegung von verschiedenen Bibelstellen. Aber mit der Zeit merken wir, dass das Problem so nicht gelöst werden kann. Denn mein Gegenüber versteht und interpretiert dieselben Bibelverse ganz anders. Die eigene Theologie ist nämlich nicht einfach neutral oder objektiv, sondern von den andern drei Bereichen der Glaubensidentität geprägt und abhängig. [Gemeint sind Weltbild, Hermeneutik, Glaubenspraxis, Anm. UP] Die Frage wäre also: Wo ist dieses Thema bei mir vor allem verortet? In den Erfahrungen der eigenen Biographie, im eigenen Weltbild oder in meinem Bibelverständnis?“ (S.39)

Solche Unterscheidungen sind bei Reflexion eigener Motive und Gedanken vielleicht hilfreich. Aber werden nicht alle wichtigen Lebensthemen mit allen drei Dimensionen zu tun haben? Und ist ein ethisches Problem erst dann gelöst, wenn Personen unterschiedlicher Meinung zu einer gemeinsamen Bewertung kommen? Es scheint, man soll bei dieser Fragestellung am besten zu der Erkenntnis kommen, dass es auf keinen Fall einen verbindlichen biblischen Maßstab für alle gibt. Denn:

„Die Überzeugung, dass gültige moralische Normen für Gläubige nur exklusiv christlich begründet werden können, hat sich vielfältig als eine Sackgasse erwiesen, gerade auch im innerchristlichen Gespräch. Solche Absolutheitsansprüche tragen zu einer Dogmatisierung der Ethik bei, die Gespräche erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht. …. An dieser Stelle besteht für alle Ethik heute eine Schlüsselaufgabe: die Entschärfung prinzipieller Konflikte durch ihre Überführung in den Streit miteinander und umeinander.“ (S. 72)

Darf es also keine exklusiv christlich begründeten Normen für Gläubige geben? In welche Sackgasse führt das? Was ist Dogmatisierung der Ethik? Ist es Dogmatisierung der Ethik, wenn neun der Zehn Gebote mit dem ersten Gebot verbunden sind? Wird in den Zehn Geboten kein Absolutheitsanspruch erhoben? Ist es Dogmatisierung der Ethik, wenn die Ich-aber-sage-euch-Gebote der Bergpredigt mit dem Messiasanspruch Jesu und also der Offenbarung Gottes in Jesus verbunden werden? Sind Gespräche nur möglich, wenn man den eigenen Standpunkt relativiert? Fragen über Fragen. Da würde ich gern „in den Streit miteinander und umeinander“ eintreten.

Schließlich hat sich beim Lesen dieses Buches bei mir die Sicht bestätigt, dass die Soziologie  inzwischen die Theologie beherrscht. Wir haben seit Jahrzehnten viel durch soziologische Forschungen auch für unseren Dienst als Christen gelernt. Ist der Eindruck falsch, dass die Soziologie aber längst keine Hilfswissenschaft mehr ist, sondern dass sie die theologische Arbeit durch Vorgaben bevormundet, und zwar viel stärker als das Studium und die Auslegung der Bibel? Die Soziologie liefert inzwischen auch die Begründung für unterschiedliche Bibelverständnisse, wie Heinz-Peter Hempelmann im Zusammenhang der Debatte um die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare geltend gemacht hat. Menschen sind eben durch unterschiedliche Mentalitäten als prämodern, modern oder postmodern geprägt. Diese Mentalitäten werden offensichtlich als unveränderliche Vorgaben hingenommen und bestimmen das Bibelverständnis der jeweiligen Personen. Die werden wiederum aufgefordert, ihre theologischen Überzeugungen wegen ihrer Vorprägungen durch Weltbild, Mentalität und Biographie zu relativieren.

Aus meiner Sicht ist dieser erste Band der „Transformativen Ethik“ ebenfalls ein Beleg für die Bevormundung der Theologie durch die Soziologie. Da wundert es mich nicht, dass als konkretes Ergebnis einer so angelegten Ethik ziemlich schnell eine Position herauskommt, die man gut auch als opportunistische Anpassung an die herrschende Moral der Mehrheitsgesellschaft deuten kann – wie z.B. die Forderung der Segnung und Trauung gleichgeschlechtlicher Paare in christlichen Gemeinden und Gemeinschaften.