Was heißt evangelikal?

Bischof Prof. Dr. Dr. Thomas Schirrmacher, Bonn, wurde am 27. Februar 2021 in sein Amt als Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz / World Evangelical Alliance (WEA) eingeführt. Im Rahmen der Online-Veranstaltung hielt er eine kurze Antrittsrede. Auf inspirierende Weise beantwortete er die Frage „Was heißt evangelikal?“ Nach all der lähmenden Meckerei, die man sich hierzulande über die Evangelikalen anhören muss, ein wirklich ermutigender Impuls. Thomas Schirrmacher, dem wir von Herzen Gottes Segen für seinen wichtigen Dienst wünschen, sagte: „Für mich beschreibt der Ausdruck evangelikal die Begeisterung für die DNA des Christentums, ja auch die Suche nach der DNA des Christentums.“

Wir veröffentlichen seine englische Rede hier als Video.

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Hier folgt die autorisierte deutsche Übersetzung:

Die WEA ist eine sehr vielfältige und unterschiedliche Bewegung. Als 1846 anglikanische Priester und Offiziere der Heilsarmee begannen zusammenzuarbeiten, hielten die Leute das für unmöglich. Deutsche lutherische Pastoren und Professoren luden Methodisten aus den USA ein, das Evangelium zu predigen. Das war unerhört. Heute sind wir noch unterschiedlicher. Wir sind in konfessioneller Hinsicht und in ethnischen Fragen viel unterschiedlicher als damals, auch in Sprachen und Kulturen. Wir haben Gemeinden im brasilianischen Regenwald, wo sie zehn Meter hoch in den Bäumen ihre Gottesdienste halten. Und wir haben Gemeinden in Malaysia, deren Gemeinderäume sich im 20. Stockwerk eines Hochhauses befinden.

Was heißt dann evangelikal?

Ich kann Ihnen zunächst eines sagen: Evangelikale waren sich in politischen Fragen nie einig. Sie können das rund um den Globus sehen. Wir haben Länder, in denen wir Evangelikale im Parlament haben, auf der Regierungsseite und in der Opposition. Evangelikale haben in politischen Fragen weder gestern noch 1846 miteinander übereingestimmt. Darin liegt also nicht das Geheimnis der evangelikalen Bewegung. 

Für mich beschreibt der Ausdruck evangelikal die Begeisterung für die DNA des Christentums, ja auch die Suche nach der DNA des Christentums. Und ich möchte ein bisschen über die Frage nachdenken, wie es sich zur DNA des Christentums verhält, wenn man sich evangelikal nennt.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Wir glauben an die Auferstehung Jesu, wir glauben an Pfingsten, dass der Heilige Geist die Gläubigen, die Gemeindeglieder, erfüllte. Wenn nun jemand die Historizität in Frage stellt und sagt: Das ist nicht tatsächlich geschehen oder es muss nicht wirklich geschehen sein, dann stehen wir für die Historizität unseres Glaubens ein. Jesus bekam wirklich neues Leben von seinem Vater. Der Heilige Geist fiel tatsächlich auf die Gläubigen. Manche würden dann sagen: Das ist evangelikal. Aber wir sagen nicht, dass das im konfessionellen Sinne etwas Spezielles ist, sondern wir glauben es, weil wir es für die DNA des Christentums halten. Wir verdanken alles dem, was Jesus getan hat und was der Heilige Geist tut.

Wenn es um die Bibel geht, sind wir tief überzeugt, dass die Bibel die Verfassung der Kirche ist. Sie mögen fragen: Warum gebrauchst du einen politischen Ausdruck? Nun, schauen Sie in die Geschichte! Der Gedanke, dass ein papierenes Dokument die Leute regieren soll, kommt aus dem Alten Testamentes. Die Thora des Alten Testaments stand über David, stand über dem König, stand über allen. Manche Leute verspotten uns und sagen, wir hätten einen papierenen Papst. Wir sind stolz, einen papierenen Papst zu haben! Denn der papierene Papst stellt sicher, dass keiner von uns, mich eingeschlossen, über dem Wort Gottes steht. Wir alle unterstellen uns dem Wort Gottes. Niemand ist darüber. Nein, da ist einer darüber, es ist Jesus, der das Zentrum der Heiligen Schrift ist, und der Heilige Geist, der der Autor der Heiligen Schrift ist – zumindest nach unserem Glauben.  

Darum denken wir, dass eine Bewegung wie die unsere die sehr starke Betonung der Heiligen Schrift durch die Reformation vor 500 Jahren mit vielen Erweckungsbewegungen einschließlich unserer pfingstlichen und charismatischen Freunde zusammenbringen kann, die betonen, dass der Heilige Geist allein uns und die Welt verändern kann.

Lassen Sie mich aus einem sehr calvinistischen Dokument von 1647 zitieren. Im Westminster Bekenntnis, in England verfasst, heißt es: „Das höchste Gericht, durch das alle Kontroversen der Religion entschieden werden müssen, und auch alle Entscheidungen von Konzilen, alle Meinungen der alten Kirchenväter, alle Lehren von Menschen und persönliche Meinungen geprüft werden müssen und durch dessen Urteil wir Ruhe finden, kann kein anderer sein als“ – wir würden jetzt wohl erwarten: die Heilige Schrift. Nein es heißt 1647 – „der Heilige Geist, der in der Schrift spricht.“

Wir glauben, dass der Heilige Geist seine Kirche regiert. Aber wir glauben nicht, dass das im Gegensatz zur Heiligen Schrift steht, denn der Heilige Geist ist der Autor der Heiligen Schrift und er gebraucht seine „Verfassung“, die Heilige Schrift, um die Kirche zu regieren. Das ist die DNA des Christentums und es ist evangelikal. Wenn allerdings andere das in Frage stellen, dann mag es als etwas Besonderes erscheinen, dass wir Evangelikalen vertreten. Wir aber glauben, dass es christlich ist.

Dafür zwei Beispiele. Das eine ist das Dokument „Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt“.[1] Evangelikale haben schon immer dafür eingestanden, dass jeder Christ bezeugen soll, dass Jesus für uns am Kreuz gestorben ist und dass wir nur in ihm Gemeinschaft mit Gott und ewiges Leben finden. Aber jetzt startet das Dokument von 2011 mit dem Satz „Mission ist das Wesen der Kirche.“ Es spricht davon, dass jeder Gläubige verpflichtet ist, das Evangelium weiterzusagen. Ist das nun evangelikal oder christlich? Es ist christlich, insofern offensichtlich alle Kirchen zustimmen, dass Mission das Wesen der Kirche ist. Das hat Jesus Christus uns aufgetragen. Wenn allerdings nicht alle dem fröhlich zustimmen und es auch praktizieren, wird es als etwas speziell Evangelikales angesehen. Wir müssen selbst auch vorsichtig sein zu behaupten, dass wir entsprechend leben. Mission ist auch bei uns nicht immer das Wesen unserer örtlichen Gemeinden. Oft müssen wir als evangelikale Gemeinden erinnert werden, dass wir das Zeugnis des Evangeliums ins Zentrum stellen müssen.

Das letzte Beispiel ist Religionsfreiheit und Verfolgung. 1846 war die Evangelische Allianz die allererste große Körperschaft, die sich für Religionsfreiheit ausgesprochen hat. Und das hieß, gegen Staatskirchen und gegen christlichen Nationalismus Stellung nehmen. Wir wissen, dass das sogar in unseren eigenen Reihen heute eine sehr heiße Kartoffel ist, sich gegen christlichen Nationalismus, sich gegen staatlichen Druck auf den Glauben der Bürger auszusprechen.

Nach einer langen Geschichte hat die katholische Kirche inzwischen im Zweiten Vatikanischen Konzil genau das Gleiche gesagt, dass Religionsfreiheit nicht nur ein politisches Prinzip ist, sondern die DNA des Christentums. Ist das evangelikal? Nun, wir haben uns lange, sehr lange dafür eingesetzt. Aber wir standen nicht dafür wie für ein konfessionelles Extra, sondern im Glauben, dass es Christentum pur ist. Gott selbst möchte geliebt werden. Er möchte, dass wir ihm vertrauen. Er möchte unser Leben. Er möchte nicht, dass wir aus Zwang zu ihm beten, weil uns jemand dafür bezahlt oder weil uns jemand betrogen hat. Er möchte unser Herz, unser Vertrauen und unsere Liebe. Und Liebe kann man nicht aufzwingen.

Ich bin tief überzeugt, dass die evangelikale Bewegung für Besonderheiten in der christlichen Welt einsteht. Aber es sind nicht Besonderheiten in dem Sinn, dass sie unser Eigentum sind und uns von anderen unterscheiden.  Sie sind die DNA des christlichen Glaubens selbst. Und wenn wir um Einheit in der evangelikalen Bewegung ringen, wenn wir die Anglikaner, die Reformierten, die Pfingstler, die Heilsarmee und alle solche Gruppen in unserer Mitte zusammenbringen wollen, dann ist das nur um die DNA des Christentums herum möglich. Wir sind offen für jede andere Kirche außerhalb unserer Bewegung, die sich mit uns in diesen Punkten der christlichen DNA verbinden wollen. Wir hoffen, dass wir unsere Vision auf viele Kirchen in dieser Welt ausdehnen können.

Es ist mein Vorrecht, der Weltweiten Evangelischen Allianz zu dienen. Ich weiß, wir alle sind Sünder, wir leben unter der einen Heiligen Schrift, die bestimmt, wenn wir in unserem Tun versagen.  Ich bin tief überzeugt, dass nur die Gebete von Millionen und die Gebete von engen Freunden, die von mir wissen, was andere nicht wissen können, es möglich machen, eine Aufgabe zu übernehmen, die zu groß für einen Menschen ist.

Übersetzt von Ulrich Parzany nach der Rede auf https://www.youtube.com/watch?v=iu3S9-qaIsU


[1] Das Dokument „Das christliche Zeugnis in einer multireligiösen Welt“ wurde im Sommer 2011 gemeinsam vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), der Weltweiten Evangelische Allianz (WEA) und dem Päpstlichen Rat für Interreligiösen Dialog des Vatikan (PCID) verabschiedet.